»Nein!« Josh zerrt ihn ihr aus der Hand, lasst den Metzger aber keinen Augenblick aus den Augen. »Niemand nimmt den Rucksack!«
Die Stimme des Metzgers verwandelt sich in ein Brummen, wird tief und duster: »Das solltest du dir lieber zweimal uberlegen, Jungchen. Mit mir spielt man nicht.«
»Die Sache ist, dass ich gar nicht mit Ihnen spiele«, erwidert Josh. »Ich will damit nur eine Tatsache ausdrucken. Die Sachen im Rucksack gehoren uns. So ist das nun mal. Und niemand wird sie uns stehlen.«
»Wer es findet, dem gehort’s?«
»Genau so sieht es aus.«
Die alten Manner ziehen sich jetzt noch weiter zuruck, so dass Lilly sich vorkommt, als stunde sie in einem flackernden, eiskalten Boxring zusammen mit zwei in die Enge getriebenen Tieren. Sie sucht handeringend nach einer Moglichkeit, die Situation zu entspannen, aber die Worte bleiben ihr in der Kehle stecken. Sie ergreift Joshs Schultern, aber er schuttelt sie einfach ab. Der Metzger wirft Lilly einen Blick zu. »Sag deinem Freund hier, dass er gerade im Begriff ist, den gro?ten Fehler seines Lebens zu machen.«
»Sie hat damit uberhaupt nichts zu tun«, mischt sich Josh ein. »Das hier, das ist eine Sache zwischen uns beiden.«
Der Metzger bei?t sich nachdenklich auf die Backen. »Ich schlag dir etwas vor … Bin ein fairer Mann … Ich gebe dir noch eine Chance. Gib mir einfach, was du gefunden hast, und ich streiche deine Schulden. Wir tun so, als ob das hier nie passiert ware.« Etwas, das als Lacheln verstanden werden soll, huscht uber sein wettergegerbtes Gesicht. »Das Leben ist zu kurz, wei?t du, was ich damit sagen will? Insbesondere hier.«
»Los, Lilly«, sagt Josh, ohne die Augen vom Metzger abzuwenden. »Wir haben Besseres zu tun, als hier herumzustehen und unsere Zeit zu vergeuden.«
Josh wendet sich ab.
Sam Metzger will ihm den Rucksack entrei?en. »GIB MIR DAS VERFICKTE ZEUG!«
Lilly muss mit ansehen, wie es mitten auf der Stra?e zu einem Kampf zu kommen droht.
»JOSH! NEIN!«
Der gro?e Mann dreht sich, lasst die Schulter fallen und rammt sie dem Metzger in die Brust. Die Bewegung ist so plotzlich und schnell, erinnert ihn sogar an seine Tage als American-Football-Spieler, an damals, als er das gesamte Feld von hinten aufgeraumt hat. Der Mann in der blutigen Schurze wird so heftig zuruckgeworfen, dass es ihm den Atem verschlagt. Er stolpert uber die eigenen Beine und landet hart auf dem Hintern, blinzelt dann vor Schock und Emporung.
Josh tut so, als ob nichts geschehen ware, dreht sich um und geht weiter die Stra?e entlang, ruft uber die Schulter: »Lilly, ich habe gesagt, wir gehen!«
Lilly sieht nicht, wie der Metzger sich plotzlich auf dem Boden walzt, versucht, etwas aus dem Gurtel unter seiner Schurze zu holen. Sie sieht nicht das Schimmern des blauen Stahls in seiner Hand, auch hort sie nicht das verraterische Klicken, als er die Waffen entsichert. Und sie sieht nicht den Wahnsinn in den Augen des Metzgers, bis es zu spat ist.
»Josh, warte!«
Lilly macht einige Schritte, ist jetzt nur noch drei Meter hinter Josh, als der Schuss ertont, der Knall die Luft erschuttert. Die 9-mm ist so laut, dass die Fenster selbst einen halben Block weit entfernt scheppern. Instinktiv sucht Lilly Deckung, sturzt sich auf den Schotter, so dass ihr die Luft wegbleibt.
Als sie endlich wieder atmen kann, fangt sie an zu schreien. Eine Schar Tauben erhebt sich von dem Dach des Lebensmittellagers, verbreitet sich im immer dunkler werdenden Himmel wie schwarze Spitze.
Zwolf
Fur den Rest ihres Lebens wird Lilly Caul sich an diesen Tag erinnern. Der rote Kranz aus Blut und Gewebe schwebt ihr standig vor Augen, er wachst aus Josh Lee Hamiltons Kopf wie eine Blume. Die Wunde erscheint eine Nanosekunde spater, ehe Lilly den Knall der Glock wahrnimmt. Sie erinnert sich daran, dass sie gestolpert, auf den Burgersteig gefallen ist, keine zwei Meter hinter Josh, und sich einen Backenzahn angebrochen hat. Ein Schneidezahn bohrte sich durch ihre Zunge. Danach hat es in ihren Ohren geklingelt, und ein feiner Regen von Blut hat sich auf ihre Handrucken und Unterarme gelegt.
Aber am deutlichsten kann sie sich an den Anblick von Josh Lee Hamilton erinnern, wie er zu schwanken begann, wie seine Beine wie die einer Flickenpuppe nachgaben. Und das war vielleicht das Merkwurdigste an der ganzen Sache: wie der Riese seine Standhaftigkeit verlor. Man stellt sich vor, dass ein solcher Gigant nicht einfach so aufgeben, wie ein Mammutbaum umfallen oder wie ein Wahrzeichen unter einer Abbruchbirne zusammenbrechen wurde, so dass die Erde bebt. Tatsache aber war, dass Josh Lee Hamilton an jenem Tag im schwindenden blauen Licht sang- und klanglos dahinging.
Er ist einfach zu Boden gegangen und leblos liegen geblieben.
Direkt danach wird Lillys Korper von Schuttelfrost ergriffen. Sie kriegt am ganzen Korper Gansehaut. Alles wird unscharf, verschwommen und doch kristallklar, als ob ihr Geist sich von ihrer irdenen Hulle trennen wurde. Sie verliert die Kontrolle uber ihr Handeln, steht auf, ohne es wirklich zu merken.
Sie bewegt sich auf den zu Boden gegangenen Mann zu, tut einen unfreiwilligen Schritt nach dem anderen, wie ein Roboter. »Nein, warte … Nein, nein, warte, warte, warte«, brabbelt sie, als sie zu dem sterbenden Riesen kommt. Sie fallt auf die Knie. Tranen stromen ihre Wangen hinab, als sie seinen riesigen Kopf in die Hande nimmt und stammelt: »Jemand … Ruft einen Arzt … Nein … Nun los, holt endlich einen VERFICKTEN ARZT, IRGENDJEMAND!«
Josh ringt mit dem Tod. Blut lauft uber ihre Armel. Sein Gesicht in Lillys Handen beginnt unkontrolliert zu zucken. Seine Augen verdrehen sich, er blinzelt noch ein, zwei Mal, blickt in Lillys Gesicht, wird ein letztes Mal zum Leben erweckt. »Alicia … Mach das Fenster zu.«
Eine Synapse feuert, eine Erinnerung an eine altere Schwester verblasst in dem traumatisierten Gehirn wie verloschende Glut.
»Alicia, schlie? das …«
Die Zuckungen in seinem Gesicht ebben ab, die Augen erstarren gleich Murmeln in ihren Hohlen.
»Josh, Josh …« Lilly schuttelt ihn, als ob sie einen Motor per Kickstarter wieder zum Laufen bringen wollte. Aber das geht nicht mehr. Sie ist blind vor Tranen, alles wird milchig. Sie spurt, wie sie ihr auf die Handgelenke tropfen, als sich plotzlich etwas um ihr Genick legt.
»Lass ihn«, ertont eine raue Stimme hinter ihr. Ihr Eigentumer vermag es kaum, seine Wut zu unterdrucken.
Lilly verspurt, wie jemand sie von dem leblosen Korper zieht. Eine gro?e, mannliche Hand hat sie am Kragen gepackt und rei?t sie fort.
Etwas tief in ihr gibt nach.
Die Zeit vergeht nur sehr langsam, ist irgendwie kaputt wie in einem Traum, als der Metzger sie von dem Toten wegrei?t. Er zerrt sie zuruck, und sie bricht an der Mauer zusammen, sto?t sich den Hinterkopf, liegt still auf dem Boden und starrt auf den schlaksigen Mann mit der Schurze. Der Metzger ragt uber ihr, schnauft, sein ganzer Korper zittert vor Adrenalin. Hinter ihm stehen die alten Manner in einer Gruppe vor dem Lebensmittellager, scheinen in ihren Manteln verschwinden zu wollen. Ihre verwaschenen Augen sind weit aufgerissen.
Aus den Hausern erscheinen Kopfe, Augen schauen aus Fenstern und Eingangen.
»Nun seht, was ihr beide angerichtet habt!«, brullt der Metzger und richtet die Pistole auf Lilly. »Ich habe versucht, vernunftig mit euch umzugehen!«
»Tu es.« Sie schlie?t die Augen. »Tu es einfach … Nun mach schon.«
»Du dumme Schlampe, ich werde dich nicht umbringen!« Mit der freien Hand verpasst er ihr eine Ohrfeige. »Horst du mir uberhaupt zu? Passt du jetzt auf?«
In der Ferne ertonen Schritte – jemand rennt auf sie zu, anfangs noch unbemerkt. Lilly offnet die Augen. »Du bist ein Morder«, stammelt sie, der Mund voller Blut. Auch aus ihrer Nase schie?t jetzt der dickflussige Lebenssaft. »Du bist schlimmer als ein Schei?zombie!«
»Du kannst glauben, was du willst.« Er schlagt erneut zu. »Und jetzt will ich, dass du mir zuhorst.«
Der Schmerz belebt Lilly, sie wacht wieder auf. »Was willst du?«