Stimmen ertonen, Schritte kommen immer naher, aber der Metzger hort nichts weiter als seine eigene Stimme. »Du wirst mir noch den Rest von Green Miles Schulden bezahlen, Kleines!«
»Fick dich.«
Der Metzger beugt sich zu ihr herab und grapscht sie am Kragen. »Du wirst deinen kleinen Arsch fur mich abarbeiten, bis ich …«
Lillys Knie schie?t mit voller Wucht in die Hohe, hart genug, um des Metzgers Eier in sein Becken zu befordern. Der Mann keucht uberrascht auf. Es hort sich an wie Dampf, der aus einem kaputten Ventil entweicht.
Lilly springt auf und krallt sich in seinem Gesicht fest. Ihre Fingernagel sind bis aufs Letzte abgekaut, so dass sie nicht viel Unheil mit ihnen anrichten kann, aber es treibt den Mann noch weiter zuruck. Er holt aus, will sie wieder schlagen. Sie duckt sich, so dass er lediglich ihre Schulter erwischt. Sie tritt ihm erneut in die Weichteile.
Der Metzger taumelt, greift nach der Pistole.
Mittlerweile ist Martinez nur noch einen halben Hauserblock entfernt und sprintet auf sie zu. Zwei Wachen sind ihm dicht auf den Fersen. »WAS ZUM TEUFEL …?«, brullt er.
Der Metzger hat die Glock wieder aus dem Gurtel geholt und dreht sich zu dem heransturmenden Martinez um.
Der vor Kraft strotzende, wendige Martinez sturzt sich auf ihn, schlagt den Kolben seines Maschinengewehres mit aller Wucht auf des Metzgers Handgelenk. Der Ton brechender Knochen ist uber dem Wind horbar. Die Glock fliegt dem Mann aus der Hand, und er jault wehklagend auf.
Eine der Wachen, ein schwarzer Junge in einem zu gro?en Kapuzenpullover, schnappt sich Lilly und zerrt sie aus der Gefahrenzone. Sie windet und wehrt sich in seinen Armen, wahrend er sie in Sicherheit zieht.
»Gib auf, Arschloch!«, brullt Martinez und zielt mit dem Maschinengewehr auf den noch taumelnden Metzger, der aber schneller als Martinez ist und den Lauf umfasst.
Die beiden Manner kampfen um die Waffe. Sie stolpern in Richtung der Tonne mit dem Feuer, werfen sie um, so dass die Glut sich auf den Burgersteig ergie?t. Die beiden kommen ins Wanken, sturzen gegen die Glastur vom Lebensmittellager. Als Martinez dem Metzger mit dem Maschinengewehr ins Gesicht schlagt, gibt das Glas leicht nach, und ein feiner Haarriss zieht sich uber die Scheibe.
Der Metzger brullt vor Schmerz auf, rei?t Martinez die M1 aus den Handen. Sie fliegt durch die Luft, landet auf dem Burgersteig. Die alten Manner fluchten panisch, wahrend von allen Seiten Bewohner herbeieilen. Die zweite Wache, ein alterer Mann mit Pilotenbrille und einer heruntergekommenen Daunenweste, halt die Schaulustigen in Schach.
Martinez verpasst dem Metzger einen rechten Haken, so dass der durre Mann mit der Schurze durch das berstende Glas der Tur sturzt.
Der Metzger landet im Lager, bricht auf dem gekachelten Boden zusammen, der mit Glassplittern ubersat ist. Martinez klettert hinterher.
Ein wahres Feuerwerk von Schlagen hagelt jetzt auf den Metzger ein. Er kann sich nicht mehr verteidigen, nicht mehr fluchten, kommt nicht mehr vom Boden weg. Sabber und Blut fliegen durch die Luft. Er versucht panisch, sein Gesicht zu schutzen, halt die Arme zur Verteidigung hoch, aber Martinez drischt unentwegt auf ihn ein.
Er schlagt den Mann mit einem harten Kinnhaken bewusstlos, der den Kiefer knirschen lasst.
Niemand sagt ein Wort oder gibt einen Laut von sich, wahrend Martinez nach Luft schnappt. Er steht uber dem Mann in der Schurze, reibt sich die Fingerknochel, versucht, sich zu orientieren. Jetzt fangt die Menge drau?en an, begeistert zu rufen, aber er hort es gar nicht richtig. Die ganze Situation gleicht irgendwie einer perversen Mobilmache oder Wahlveranstaltung.
Martinez versteht nicht, was gerade passiert ist. Er hat sich nie viel aus Sam dem Metzger gemacht, kann sich aber auch nicht vorstellen, was passiert sein muss, damit er die Waffe auf Hamilton richtet.
»Was zum Teufel ist blo? in dich gefahren?«, fahrt Martinez den Mann auf dem Boden an. Nicht dass er eine Antwort erwartet, aber er muss sich abreagieren.
»Der Mann will offensichtlich im Mittelpunkt stehen, ein Star sein.«
Die Stimme ertont von dem zerborstenen Glas hinter Martinez.
Er dreht sich um und sieht den Governor in der Tur stehen. Drahtig, die Arme vor der Brust verschrankt, die langen Rockscho?e seines Mantels im Wind flatternd, steht er mit ratselhaftem Gesichtsausdruck da, einer Mischung aus Verwirrung, Abscheu und unheilvoller Neugier. Gabe und Bruce befinden sich wie immer hinter ihm wie missmutige Totempfahle.
Martinez versteht die Welt nicht mehr. »
Die Miene des Governors verandert sich schlagartig – seine dunklen Augen leuchten mit einer Eingebung auf, sein Schnauzbart ist jetzt voll gewachsen und zuckt um seine Mundfalten. All das verrat Martinez, dass es besser sei, ihn nicht unnotig zu reizen. »Zuerst«, fahrt der Governor unbeirrt mit teilnahmsloser Stimme fort, »musst du mir sagen, was genau passiert ist.«
»Er hat nicht gelitten, Lilly … Das darfst du nicht vergessen … Keine Schmerzen … War einfach nur dahin, wie eine Lampe, die man ausschaltet.« Bob hockt auf dem Bordstein neben Lilly, die mit hangendem Kopf dasitzt, die Tranen kullern ihre Wangen hinab. Bobs Erste-Hilfe-Kasten steht geoffnet neben ihm auf dem Burgersteig, und er tupft ihr maltratiertes Gesicht mit Desinfektionsmittel ab. »Das ist mehr, als wir alle uns in dieser verkackten Welt erhoffen konnen.«
»Ich hatte eingreifen sollen«, murmelt Lilly mit tonloser, ausgelaugter Stimme, die klingt, als ob sie bereits auf dem Zahnfleisch gehe. Ihre Tranensacke sind leer geweint. »Ich hatte es tun konnen, Bob. Ich hatte es verhindern konnen.«
Es folgt ein langes Schweigen, der Wind zieht und zerrt an den Dachstuhlen und Hochspannungsleitungen. So gut wie die gesamte Bevolkerung von Woodbury hat sich auf der Hauptstra?e versammelt, um das Nachspiel der Tragodie zu erleben.
Josh liegt auf dem Rucken neben Lilly. Man hat ihn mit einem Laken bedeckt. Ohne dass Lilly es bemerkte, wurde das behelfsma?ige Leichentuch kurzerhand uber ihn geworfen und saugte sich schnell voller Blut von Joshs Kopfwunde. Lilly streichelt ihm zartlich das Bein, zwickt es ab und zu, massiert es, als ob er von ihrer Beruhrung wieder aufwachen wurde. Einige Strahnen haben sich von Lillys Pferdeschwanz gelost und hangen jetzt uber ihr gezeichnetes, niedergeschlagenes Gesicht.
»Ruhig jetzt, meine Kleine«, versucht Bob sie zu beruhigen und steckt eine Flasche mit Jod zuruck in den Erste-Hilfe-Kasten. »Es gibt nichts, was du hattest machen konnen. Rein gar nichts.« Bob wirft einen raschen, besorgten Blick auf die zerbrochene Glastur des Lebensmittellagers, in der noch Scherben stecken. Drinnen kann er gerade noch den Governor und sein Gefolge ausmachen, der sich mit Martinez unterhalt. Der bewusstlose Metzger liegt im Schatten. Der Governor macht einige ausholende Gesten in Richtung des Metzgers, scheint Martinez etwas zu erklaren. »Das ist eine gottverdammte Schande«, meint Bob und wendet sich ab. »Eine gottverdammte Schande.«
»Er hat niemals einer Fliege etwas zuleide getan«, sagt Lilly und blickt auf das blutbefleckte Laken. »Ich wurde gar nicht leben, wenn er nicht gewesen ware … Er hat mir das Leben gerettet, Bob, und er wollte nur …«
»Miss …?«
Lilly schaut auf, als sie eine ihr unbekannte Stimme vernimmt und erblickt einen alteren Mann mit Brille. Er tragt einen wei?en Kittel, steht hinter Bob. Dazu gesellt sich eine junge Frau, vielleicht um die zwanzig, mit blonden Zopfen. Auch sie tragt einen abgewetzten Kittel. Um den Hals hangt ein Stethoskop, und sie hat ein Blutdruckmessgerat in der Hand.
»Lilly, das ist Doc Stevens«, stellt Bob ihr den Mann vor und nickt in seine Richtung. »Und das hier ist Alice, unsere Krankenschwester.«
Die Frau nickt Lilly zu und packt das Blutdruckmessgerat aus.
»Lilly, wurde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns Ihr Gesicht mal etwas genauer ansehen wurden?«, fragt der Arzt, kniet sich neben sie hin, nimmt das Stethoskop von der Schwester und steckt es sich in die Ohren. Lilly antwortet nicht, blickt erneut zu Boden. Der Arzt tastet vorsichtig ihr Genick ab, arbeitet sich um den Hals in Richtung Brustbein und nimmt dann schlie?lich ihren Puls. Er untersucht ihre Wunden, checkt ihre Rippen. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Ihren Partner verloren haben, Lilly«, murmelt der Arzt.
Lilly sagt nichts.