»Einige der Verletzungen sind schon alt«, erklart Bob, steht auf und geht etwas zur Seite.
»Sieht nach einer Haarfraktur an Nummer acht und neun sowie dem Schlusselbein aus«, schlie?t er. »Alle verheilt. Auch die Lungen horen sich gut an.« Er nimmt das Stethoskop aus den Ohren und legt es um den Hals. »Lilly, bitte lassen Sie uns wissen, falls Sie irgendetwas brauchen.«
Sie nickt.
Der Arzt sucht nach den richtigen Worten. »Lilly, ich mochte, dass Sie …« Er halt inne, uberlegt. »Nicht jeder hier ist … ist so. Ich wei?, dass es Sie kaum trosten wird.« Er wirft Bob einen Blick zu, schaut dann auf die zertrummerte Lebensmittellagertur, ehe er sich wieder Lilly zuwendet. »Was ich damit sagen mochte … Wenn Sie jemals uber etwas reden wollen, wenn Ihnen etwas nicht passt, wenn Sie was auch immer brauchen … kommen Sie einfach zu uns in die Klinik.«
Als Lilly nicht reagiert, seufzt der Arzt und steht auf. Er tauscht einen nervosen Blick mit Alice und Bob aus.
Bob gesellt sich wieder zu Lilly, kniet sich hin und haucht: »Lilly, Kleines – wir mussen jetzt den Leichnam beiseiteschaffen.«
Zuerst hort sie ihn kaum, nimmt uberhaupt nicht wahr, was er sagt.
Sie starrt einfach weiterhin auf den Burgersteig, streichelt das Bein des Toten und fuhlt sich leer. In Anthropologie an der Georgia Tech hat sie gelernt, dass ein wichtiger Teil der Mythologie der Algonkinstamme die Beschwichtigung der Totengeister beinhaltet. Nach der Jagd haben sie ihre Beute bei den letzten Atemzugen beatmet, sie damit geehrt, in ihren eigenen Korper aufgenommen, ihr die letzte Ehrerbietung erwiesen. Lilly aber verspurt lediglich eine Trostlosigkeit, ein Gefuhl des Verlusts von dem immer kalter werdenden Leichnam von Josh Lee Hamilton zu ihren Fu?en.
»Lilly?« Bobs Stimme hort sich an, als stamme sie von einem weit entfernten Ort, aus einem anderen Universum. »Wir kummern uns jetzt um Josh. Ist das okay?«
Lilly antwortet nicht.
Bob nickt Stevens zu. Der Arzt nickt wiederum der Krankenschwester zu, die ihrerseits zwei Mannern zu verstehen gibt, dass sie jetzt mit der Trage kommen konnen. Die Manner – beide Saufkumpane von Bob mittleren Alters – gehen zu Josh, nur Zentimeter von Lilly entfernt, und stellen die Trage auf dem Boden ab. Der erste Mann versucht vorsichtig, den Riesen auf die Bahre zu hieven, als Lilly ihn plotzlich anstarrt, die Tranen wegblinzelt.
»Lassen Sie ihn«, brummt sie kaum horbar.
Bob legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Lilly, Kleines …«
Ihr gequalter Schrei durchbricht die windgepeitschte Stille der Stra?e, zieht jedermanns Aufmerksamkeit auf sich. Schaulustige in hundert Metern Entfernung horchen auf. Leute in Eingangen schauen um die Ecke, um zu sehen, was passiert ist. Bob winkt den beiden Bahrentragern zu, und Stevens und Alice entfernen sich, gehullt in Schweigen.
Der Aufruhr hat einige Neugierige aus dem Lebensmittellager angelockt. Sie stehen in der Tur und starren auf das Schauspiel, das sich ihnen bietet.
Bob blickt auf, sieht den Governor, die Arme vor der Brust verschrankt. Er steht breitbeinig da und nimmt alles mit seinen cleveren, dusteren Augen auf. Schuchtern gesellt sich Bob zu ihm an der Tur.
»Die wird schon wieder«, flustert Bob dem Governor zu. »Aber das geht ihr gerade ganz schon an die Nieren.«
»Und wer kann ihr das schon ubel nehmen?«, gibt der Governor zu bedenken. »Einfach so den Beschutzer und Ernahrer zu verlieren ist schon kacke.« Er kaut einen Augenblick auf der Innenseite der Wange, uberlegt. »Lasst sie in Ruhe. Wir raumen spater auf.« Dann grubelt er weiter, ohne die Augen von dem Toten neben dem Burgersteig zu nehmen. Endlich ruft er: »Gabe! Komm mal her.«
Der untersetzte Mann im Rollkragenpulli und dem Burstenhaarschnitt tut, wie ihm gehei?en.
Leise befiehlt der Governor: »Ich will, dass du das Arschloch von Metzger aufweckst und in eine Zelle verfrachtest. Am besten zusammen mit den Wachen.«
Gabe nickt, dreht sich um und verschwindet wieder im Lebensmittellager.
»Bruce!«, ruft der Governor und meint damit seine Nummer eins. Der schwarze Mann mit dem rasierten Kopf und Kevlar-Weste tritt mit einer AK-47 an der Hufte zu ihm.
»Yeah, Boss?«
»Ich will, dass du alle zusammentrommelst und sie zum Marktplatz bringst.«
Der schwarze Mann neigt den Kopf unglaubig zur Seite. »Wie, alle …«
»Du hast schon richtig gehort – alle.« Der Governor zwinkert ihm zu. »Wir werden heute Nacht ein kleines Meeting abhalten.«
»Wir leben in einer brutalen Zeit, sind standig unter viel Druck – und das in jeder Minute unseres Daseins.«
Der Governor brullt in ein Megafon, das Martinez in einem verlassenen Lager gefunden hat. Seine rauchige, kehlige, heisere Stimme drohnt uber die kahlen Baume und brennenden Fackeln. Die Sonne ist untergegangen, und die gesamte Bevolkerung von Woodbury ist jetzt in der Dunkelheit vor dem Pavillon auf dem Marktplatz versammelt. Der Governor steht auf den steinernen Stufen des Rathauses und richtet das Wort an seine Burger in der unverkennbaren Tonlage eines Politikers und mit den Augen eines Wilden.
»Ich verstehe den Stress, den ihr alle verspurt«, fahrt er fort und geht die Stufen auf und ab, genie?t jeden Augenblick seines Auftritts. Seine Stimme hallt uber den mit Gebauden umsaumten Platz, wird von den mit Brettern beschlagenen Laden zuruckgeworfen. »Jeder Einzelne von uns hat in den letzten Wochen und Monaten trauern mussen … Jeder hat jemanden verloren, der ihm nahe stand.«
Er halt inne, lasst seine Worte wirken, schaut sich um und sieht viele zu Boden gerichtete Gesichter, die Augen schimmern im Licht der Fackeln. Er spurt den Schmerz formlich, der seine Zuhorer erdruckt. Innerlich lachelt er, wartet auf den richtigen Augenblick, um fortzufahren.
»Was heute vor dem Lebensmittellager passiert ist, war vollig unnotig. Ihr lebt mit Waffen … das verstehe ich. Aber es war trotzdem unnotig. Es war ein Symptom von etwas anderem, einer Krankheit, und ich werde mich um diese Krankheit kummern … Ich werde sie heilen!«
Er blickt gen Osten, wo Lilly noch immer auf dem Burgersteig neben dem zugedeckten Leichnam des Riesen sitzt. Bob kniet neben ihr, streicht ihr mit der Hand uber den Rucken und starrt auf das blutige Laken, unter dem sich die korperliche Hulle von Josh Lee Hamilton befindet.
Der Governor wendet sich erneut seinem Publikum zu. »Wir mussen uns impfen … Und damit fangen wir gleich heute Nacht an. Von jetzt ab wird hier ein anderer Wind wehen, das verspreche ich euch … Es wird neue Regeln geben.«
Er geht erneut die Stufen auf und ab und starrt finster in die Menschenmenge.
»Was uns von den Monstern da drau?en unterscheidet, nennt man
Einige Gesichter schauen ihn jetzt nervos, aber auch voller Erwartung an.
»Seht ihr die Rennstrecke da druben?«, bellt er die rhetorische Frage ins Megafon. »Seht euch das Stadion gut an!«
Er dreht sich um und gibt Martinez ein Zeichen, der im Schatten des Pavillons steht und auf den Knopf seines Walkie-Talkies druckt und einen Befehl hineinspricht. Jetzt kommt der Teil, auf dessen genaues Timing der Governor gepocht hat.
»Von heute Abend an«, fahrt der Governor fort und schaut zu, wie viele Kopfe sich jetzt zu dem riesigen, UFO-ahnlichen Gebaude im Westen drehen. Die Silhouette des Stadions ragt in den Sternenhimmel. »Ab sofort! Das ist unser neues griechisches Theater!«
Mit Glanz und Gloria eines spektakularen Feuerwerks gehen auf einmal die riesigen Flutlichter an, eines nach dem anderen. Das Gerausch kann man bis auf den Marktplatz horen. Sie senden ihre silbernen Lichtkegel in die Arena hinab. Das Spektakel erntet einen allgemein horbaren Luftzug, ein paar Leute beginnen sogar zu klatschen.
»Der Eintritt ist frei!« Der Governor spurt, wie der Energiepegel der Masse steigt. Die Atmosphare beginnt