sind.
»So will ich aber nicht leben«, erwidert Lilly, als sie langsam durch eine Allee kahler Baume gehen. Der Wind weht ihnen einen leichten Schneeregen ins Gesicht, der die Haut in ihren Gesichter brennen lasst. Es sind nur noch zwolf Tage bis Weihnachten – aber das merkt hier niemand.
»Da hat man keine Wahl, Lilly«, murmelt der Arzt mit gesenktem Kopf. Er hat den Schal uber das Kinn gezogen und starrt weiter auf den Boden.
»Man hat immer eine Wahl.«
»Glauben Sie das? Da ware ich mir nicht so sicher, Lilly.« Sie gehen stillschweigend weiter. Der Arzt schuttelt den Kopf. »Ich wei? es wirklich nicht.«
Sie blickt ihn an. »Josh Hamilton ist nie zu einem schlechten Menschen geworden. Mein Vater hat sein Leben fur mich geopfert.« Lilly holt tief Luft, versucht, gegen die Tranen anzukampfen. »Das ist doch nur eine Ausrede. Man wird bose geboren. Die ganze Schei?e, die uns hier gerade um die Ohren fliegt … Das ist doch nur ein Ausloser, bringt das wahre Ich in jedem zum Vorschein.«
»Dann moge Gott uns helfen«, raunt der Arzt mehr zu sich selber als zu Lilly.
Am nachsten Tag wird Josh Lee Hamilton unter stahlgrauem Himmel von einer kleinen Gruppe Trauernder in einem behelfsma?igen Sarg begraben. Lilly, Bob, Stevens, Alice und Megan sowie Calvin Deets, einer der Arbeiter, der sich wahrend der letzten Wochen mit Josh angefreundet hat, sind anwesend.
Deets ist schon etwas alter, ein abgemagerter Kettenraucher, der deshalb schon an fortgeschrittener Lungenaufblahung leidet. Sein Gesicht gleicht einer alten Satteltasche, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Ehrerbietig steht er in der hinteren Reihe hinter Joshs engeren Freunden. In den schwieligen Handen halt er seine Baseballmutze. Lilly ergreift das Wort.
»Josh ist in einem religiosem Umfeld, einer religiosen Familie aufgewachsen«, beginnt sie mit gebeugtem Haupt und kann vor Ruhrung kaum sprechen. Es ist, als ob sie mit dem gefrorenen Grund am Rande des Spielplatzes spricht, auf dem sie steht. »Er hat geglaubt, dass wir im Tod alle an einen besseren Ort kommen werden.«
Der Platz zeigt eine Reihe weiterer frischer Graber auf. Einige sind mit handgearbeiteten Kreuzen oder sorgfaltig aufgeschichteten, polierten Steinen versehen. Die Erde auf Joshs Grab ragt einen guten Meter uber den Boden. Sie haben seinen Leichnam in die Uberreste eines Pianos stecken mussen, das Deets in einem Lager gefunden hat. Es war der einzige Container, der gro? genug fur den toten Giganten war, und Bob und Deets haben viele Stunden damit verbracht, das Loch in den gefrorenen Boden zu graben.
»Hoffen wir also, dass es Josh gut geht, denn …« Lillys Stimme will nicht mehr. Sie kriegt keinen Ton mehr heraus. Sie schlie?t die Augen, und Tranen kullern ihr die Wangen hinab. Bob geht auf sie zu, legt einen Arm um sie. Lilly schluchzt, erbebt am ganzen Korper. Sie kann nicht weitermachen.
Bob ergreift das Wort: »Im Namen des Vaters … des Sohnes … und des Heiligen Geistes. Amen.« Die anderen wiederholen die letzten Worte. Niemand macht Anstalten, das Grab verlassen zu wollen. Der Wind fegt uber den Spielplatz und weht feinen, trockenen Schnee uber den Boden und in ihre Gesichter.
Bob versucht, Lilly behutsam vom Grab zu drangen. »Los, Kleines … Ab in die Warme mit dir.«
Lilly wehrt sich kaum, schlurft neben Bob her, als die anderen sich still mit gesenkten Kopfen und niedergeschlagenen Mienen abwenden. Einen Moment lang hat es den Anschein, als ob Megan hinter Lilly her eilen, ihr vielleicht ein paar trostende Worte sagen will. Sie tragt eine abgewetzte Lederjacke, die ihr wohl irgendein Freier im drogengeschwangerten Liebesrausch uberlassen hat. Aber Megan mit ihren Korkenzieherlocken und grunen Augen seufzt nur gequalt und halt Abstand.
Stevens nickt Alice zu; die beiden biegen in die Seitenstra?e in Richtung Arena ein, und jeder schlagt den Kragen gegen den Wind nach oben. Sie haben den halben Weg hinter sich gebracht, weit genug, um von den anderen nicht mehr gehort zu werden, als Alice Stevens fragt: »Haben Sie es auch gerochen?«
Er nickt. »Jawohl … Der Wind … Es kommt von Norden her.«
Alice seufzt und schuttelt den Kopf. »Ich wusste doch, dass diese Idioten eine ganze Horde mit ihrem Larm anlocken wurden. Sollten wir jemandem Bescheid geben?«
»Martinez wei? es schon.« Der Arzt deutet auf den Wachturm hinter ihnen. »Die rasseln schon mit den Sabeln. Moge Gott uns helfen.«
Alice sto?t erneut einen Seufzer aus. »Wir werden in den nachsten Tagen wohl einiges zu tun haben, nicht wahr?«
»Die Wache, Stinson, hat gestern Abend unsere halben Blutreserven aufgebraucht. Wir brauchen neue Spender.«
»Sie konnen mich nehmen«, bietet Alice an.
»Wirklich sehr nett, aber wir haben genug A positiv, um die Wande damit zu streichen. Und wenn ich tatsachlich noch mehr von dir abzapfe, dann kannst du dich gleich neben den Riesen da legen.«
»Was brauchen wir dann? 0 positiv?«
Der Arzt zuckt die Achseln. »Das ist, wie wenn man eine Stecknadel in einem Heuhaufen sucht.«
»Ich habe Lilly noch nicht gecheckt – und den anderen Jungen auch noch nicht. Wie hie? er noch mal?«
»Scott? Der Junkie?«
»Genau.«
Der Arzt schuttelt den Kopf. »Der hat sich die letzten Tage uberhaupt nicht mehr blicken lassen.«
»Ach, das wird schon.«
Der Arzt schuttelt noch immer den Kopf, die Hande tief in die Taschen gesteckt, wahrend er forschen Schrittes auf die Arena zulauft. »Ja, ja … Man kann nie wissen.«
Lilly, zuruck in ihrer kleinen Wohnung im ersten Stock uber der mit Brettern verschlagenen Chemischen Reinigung, fuhlt sich wie betaubt. Sie ist Bob dankbar, dass er noch ein Weilchen bei ihr geblieben ist. Er kocht ihr Abendessen – zwar genau das, was er immer macht, namlich getrocknetes Rindfleischgulasch mit Gewurzen aus der Tute –, und sie teilen sich genug von Bobs Single-Malt-Scotch gemischt mit Schlafmittel, dass Lillys Gedanken nicht mehr ganz so unablassig mit ihr durchgehen.
Die Gerausche von drau?en werden jetzt immer leiser, scheinen sich weiter zu entfernen. Bob aber ist noch immer sehr nervos, als er Lilly zu Bett bringt. Irgendetwas passiert da drau?en auf der Stra?e, wahrscheinlich, nein, mit ziemlicher Sicherheit ist es nichts Gutes. Aber Lilly kann sich nicht mehr darauf konzentrieren, hort die Stimmen, den Aufruhr, die Schritte kaum.
Es kommt ihr vor, als ob sie in der Luft schwebte, und kaum hat sie den Kopf auf das Kissen gelegt, gleitet sie in einen Dammerzustand. Die nackten Boden und mit Laken behangenen Fenster der Wohnung verschwinden hinter einer wei?en Wand. Aber ehe sie in einen traumlosen Schlaf fallt, sieht sie Bobs wettergegerbtes Gesicht uber ihr.
»Warum hauen wir nicht zusammen ab, Bob?«
Die Frage hangt fur eine Weile im Raum. Dann zuckt er die Achseln und antwortet: »Hab mir noch keine Gedanken daruber gemacht.«
»Hier gibt es nichts mehr fur uns.«
Er wendet den Blick ab. »Der Governor meint, dass sich bald alles zum Besseren wenden wird.«
»Was lauft eigentlich zwischen euch beiden?«
»Was soll das denn?«
»Er hat dich in der Hand, Bob.«
»Stimmt doch gar nicht.«
»Ich verstehe es einfach nicht.« Lilly dammert vor sich hin. Sie kann den alten Mann auf der Bettkante kaum noch ausmachen. »Der bringt einem nur Scherereien, Bob.«
»Er versucht doch nur …«
Lilly kriegt das Klopfen an der Tur kaum mit. Sie versucht, die Augen offen zu halten. Bob geht hin, und Lilly bemuht sich, lange genug wach zu bleiben, um zu sehen, wer sie besucht. »Bob? … Wer ist es denn …?«
Schritte. Dann erscheinen zwei Gestalten uber ihrem Bett, wie Geister. Sie tut ihr Bestes, um sie auszumachen, aber ihre Augenlider sind so schwer.
Bob steht neben einem ausgemergelten, dunkelaugigen Mann mit kohlschwarzen Haaren und einem penibel geschnittenen Fu-Manchu-Schnurrbart. Er lachelt, als Lilly die Augen zumacht.
»Schlaf gut«, wunscht ihr der Governor. »Du hast einen langen Tag gehabt.«
Die Verhaltensmuster der Zombies horen nicht auf, die Grubler und Denker von Woodbury zu faszinieren.