Fur einen Augenblick genie?t der Governor das Nachspiel. Die fernen Echos der Schusse verebben langsam im Wald. Die letzten noch stehenden Untoten sacken in elendigen Haufen blutiger Masse und toten Fleisches zusammen. Bei manchen kann man kaum noch erkennen, dass es sich hier einmal um menschliches Gewebe gehandelt hat. Aus anderen Uberresten steigen dampfende Gase von den hei?en Kugeln in die kalte Luft auf. Der Governor klettert die Leiter wieder hinunter.

Wahrend der ehemalige Schweinetransport mit seiner Ladung untoter Kadaver den Gang einlegt, muss Bob sich konzentrieren, um nicht zu kotzen. Die grasslichen Gerausche, die aus dem Anhanger kamen, sind jetzt etwas leiser geworden, da Stinson mittlerweile zu einem ausgehohlten Trog aus Fleisch und Knochen reduziert worden ist. Jetzt verschwindet das Klappern von Zahnen und Kiefern der sich den Bauch vollstopfenden Zombies, und der Truck rumpelt langsam in Richtung Stadion.

Der Governor gesellt sich zu Bob. »Sieht so aus, als ob du einen Schluck vertragen konntest.«

Bob schafft es nicht einmal, den Mund aufzumachen.

»Komm, auf geht’s.« Der Governor klopft dem alten Mann auf den Rucken. »Ich spendier dir ein Bier.«

Am nachsten Morgen schon ist der gesamte nordliche Bereich bereits wieder sauber gemacht, und jegliche Anzeichen des nachtlichen Massakers sind verschwunden. Die Leute gehen ihrem Alltag nach, als ob nie etwas passiert sei, und das soll auch fur den Rest der Woche so bleiben.

Wahrend der nachsten funf Tage streunt der eine oder andere Zombie, angezogen vom allgemeinen Tumult, in die Reichweite der .50er Kaliber, aber ansonsten passiert nicht viel. Weihnachten kommt und geht, ohne dass viel Aufhebens drum gemacht wird. Die meisten Einwohner Woodburys haben sich abgewohnt, auf den Kalender zu schauen, geschweige denn sich nach ihm zu richten.

Die wenigen Versuche, Weihnachten zu feiern, lassen die nackte, grausame Wahrheit nur noch schlimmer erscheinen. Martinez und seine Manner schmucken einen Baum im Foyer des Verwaltungsgebaudes und hangen Lametta an die Pagode auf dem Marktplatz, aber das war es auch schon. Der Governor benutzt die Stadionlautsprecher, um Woodbury mit Weihnachtsmusik zu beschallen, aber es geht eher auf die Nerven als alles andere. Das Wetter bleibt weiterhin einigerma?en mild – kaum Schnee, zumindest nicht erwahnenswert, und die Temperaturen fallen so gut wie nie unter null Grad.

Heiligabend geht Lilly endlich zu Dr. Stevens, um ihre Wunden vernunftig untersuchen zu lassen, und der Arzt erkundigt sich, ob sie nicht noch etwas bleiben mochte, damit sie zumindest privat ein wenig feiern konnen. Alice ist mit dabei, und sie offnen Dosen mit Fleisch und su?en Kartoffeln – sie brechen sogar eine Kiste Cabernet an, die Stevens die ganze Zeit versteckt gehalten hat. Zusammen trinken sie auf die Vergangenheit, auf bessere Zeiten und auf Josh Lee Hamilton.

Lilly kann das Gefuhl nicht abschutteln, dass der Arzt sie genau beobachtet, nach Anzeichen posttraumatischer Belastungsstorungen oder sonstiger mentaler Entgleisung sucht. Aber komischerweise ist Lilly noch nie fokussierter, verankerter in ihrem Leben gewesen. Sie wei? genau, was sie zu tun hat. Sie wei?, dass sie dieses Leben nicht mehr lange durchhalt, und sie wartet einfach darauf, bis sich ihr eine Moglichkeit bietet, etwas zu andern. Vielleicht ist es auf einer tieferen Ebene aber auch Lilly selbst, die alles analysiert.

Vielleicht sucht sie im Unterbewusstsein nach Verbundeten, Komplizen, Kollaborateuren.

Nach einer Weile gesellt Martinez sich zu ihnen, Stevens hat ihn auf einen Drink oder zwei eingeladen gehabt, und Lilly lernt, dass sie nicht die Einzige ist, die weg von hier will. Nach ein paar Cocktails beginnt Martinez zu reden, au?ert die Befurchtung, dass der Governor sie eines Tages uber die Klinge springen lassen wird. Sie streiten sich daruber, was wohl das geringere Ubel ist: entweder den Wahnsinn des Governors uber sich ergehen zu lassen oder raus in die gro?e, weite Welt ohne Sicherheitsnetz zu ziehen. Aber sie kommen zu keinem Ergebnis, und der Wein flie?t weiter ihre Kehlen hinab.

Der Abend beschert noch eine angetrunkene Einlage schief gesungener Weihnachtslieder, gefolgt von wehmutigen Erinnerungen an bessere Tage – was nur dazu dient, dass sie sich noch schlechter, noch depressiver fuhlen, und je mehr sie trinken, desto schlimmer wird es. Lilly aber lernt wahrend des gesamten Zechgelages sowohl belanglose als auch interessante Tatsachen uber diese drei verlorenen Seelen. Zum einen wei? sie jetzt, dass Dr. Stevens der schlechteste Sanger der Welt ist, dass Alice auf Martinez steht, der es aber uberhaupt nicht mitkriegt, weil er sich noch immer nach seiner Exfrau in Arkansas sehnt.

Das Wichtigste, was der Abend bringt, ist, dass die vier sich verstehen und trotz ihres gemeinsamen Elends eine Art Gemeinschaft grunden, was spater von gro?em Nutzen sein konnte.

Am darauffolgenden Tag, nachdem sie es gerade noch so auf eine Bahre im Krankenhaus geschafft hat, zwingt Lilly Caul, sich mit dem ersten Tageslicht aufzustehen und hinauszugehen. Sie starrt auf die fruhen, harschen Sonnenstrahlen. Es ist der erste Weihnachtstag, und der hellblaue Himmel scheint Lillys Gefuhl, dass sie im Fegefeuer gefangen ist, nur noch zu vervielfachen. Ihr Schadel will mit jeder Bewegung zerbersten, als sie den Windschutz ihres Fleece uber das Kinn zieht, um sich dann nach Osten aufzumachen.

Um diese Zeit ist so gut wie niemand auf der Stra?e. Wer schon wach ist, kummert sich um die letzten Feiertagsvorbereitungen. Lilly fuhlt sich verpflichtet, den Spielplatz am ostlichen Rand der Stadt zu besuchen. Der trostlose Fleck liegt direkt hinter einer Reihe nackter Holzapfelbaume.

Lilly geht zu Joshs Grab. Die sandige Erde ist noch immer frisch und nackt und bildet einen Hugel. Sie kniet sich daneben und senkt den Kopf. »Frohe Weihnachten, Josh«, bringt sie schlie?lich hervor. Ihre Stimme klingt belegt, verkatert und vor Mudigkeit beinahe rostig.

Lediglich das Rauschen der Aste antwortet. Sie holt tief Luft. »Ein paar Sachen, die ich getan habe … Wie ich dich behandelt habe … Da bin ich nicht stolz drauf.« Sie schluckt, damit sie nicht zu weinen anfangt, aber die Trauer nimmt Besitz von ihr. Sie kampft gegen die Tranen an. »Ich wollte dir nur sagen … Du bist nicht umsonst gestorben, Josh … Du hast mir etwas sehr Wichtiges beigebracht … Du hast Gro?es in mir bewegt.«

Lilly starrt auf den dreckigen, wei?en Sand unter ihren Knien und weigert sich, den Tranen nachzugeben. »Du hast mir beigebracht, wie man keine Angst mehr hat.« Sie stammelt diese Worte mehr zu sich selbst, zu dem Boden, dem kalten Wind. »Das konnen wir uns heutzutage nicht mehr leisten … Das soll hei?en … Ich bin so weit.«

Ihre Stimme verstummt, und sie kniet eine scheinbare Unendlichkeit einfach nur da, ist sich gar nicht bewusst, dass sie mit der Hand ihr Bein gepackt und sich daran so festkrallt, dass sie zu bluten beginnt.

»Ich bin so weit …«

Silvester steht vor der Tur.

Der Mann, der sich Governor nennen lasst, schlie?t sich in die gekachelte Kammer seiner Wohnung im ersten Stock ein. Er leidet an Wintermelancholie. In der einen Hand halt er eine teure Flasche franzosischen Champagner, in der anderen einen Eimer mit einer Kollektion menschlicher Organe.

Der winzige Zombie an den Ketten geifert und faucht ihn an, sobald er die Tur aufmacht. Ihr ehemals engelhaftes Gesicht ist jetzt von Totenstarre gezeichnet, ihr Fleisch so gelb wie uralter Stiltonkase, und sie knurrt und entblo?t ihre schwarzen Milchzahne. Zwei blo?e Gluhbirnen, die von der Decke hangen, erleuchten die Waschekammer nur sparlich. Der gesamte Raum stinkt nach Verdorbenem und Schimmel.

»Immer mit der Ruhe, Kleine«, murmelt der Mann mit vielen Namen sanft und setzt sich auf den Boden vor ihr. Neben sich stellt er die Flasche Champagner und auf die andere Seite den Eimer mit den Organen. Er zieht einen Chirurgenhandschuh hervor und greift mit der rechten Hand in ihren Fressnapf. »Daddy hat dir ein paar Leckerbissen mitgebracht, damit du dir schon den Bauch vollschlagen kannst.«

Er holt einen glitschigen braun und purpurnen Fleischlappen aus dem Eimer hervor und wirft ihn ihr hin.

Die kleine Penny Blake sturzt sich auf die menschliche Niere, die mit einem nassen Klatschen auf den Fliesen aufgekommen ist, und zieht und zerrt an ihren Ketten. Sie schnappt sich das Organ mit ihren zwei kleinen Handen und schlingt das menschliche Gewebe mit wilder Hingabe hinunter, bis das braune Blut ihre Finger hinablauft und ihr Gesicht die Farbe von Schokolade hat.

»Ich wunsche dir ein frohes neues Jahr, Schatz«, sagt der Governor und macht sich an den Korken der Champagnerflasche. Zuerst will er nicht herauskommen, aber der Governor bearbeitet ihn so lange, bis er die Flasche endlich offen hat. Die sprudelnde goldene Flussigkeit schaumt uber den Rand und tropft zu Boden. Er hat keine Ahnung, ob es wirklich Silvester ist, wei? nur, dass es wahrend der nachsten paar Tage so weit ist. Es konnte also auch heute Nacht sein.

Er starrt auf die sich ausbreitende Pfutze Champagner auf dem Boden. Der Schaum verschwindet in den Fugen. Er erinnert sich an das Silvester, das er aus seiner Kindheit kennt.

Damals hat er sich schon Monate vorher auf diesen Abend gefreut. In Waynesboro haben er und seine

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