Jetzt erzahlt er nichts mehr von seinen Wahrnehmungen. Er sagt diesbezuglich keinen Ton mehr – bis zu ihrem zweiwochigen Jubilaum in der Villa, als er kurz vor Sonnenaufgang von einem Klirren von Dosen aus dem Tiefschlaf gerissen wird.
Achtzehn
Was zum Teufel …«, stammelt Brian in die Dunkelheit, die sein Zimmer einhullt. Er tastet nach der Kerosinlampe auf seinem Nachttisch, sto?t sie aber lediglich um, sodass das Glas zerbricht und die Flussigkeit auslauft. Er steht auf und geht zum Fenster. Der Boden ist so kalt, dass seine Fu?e fast daran kleben bleiben.
Das Mondlicht erhellt die kristallklare Herbstnacht und verleiht jeder Form einen silbrigen Schein. Brian kann noch immer die Dosen an den Stolperdrahten horen. Auch die anderen haben offenbar etwas mitbekommen, denn es dringen Gerausche aus den anliegenden Zimmern zu ihm. Jetzt sind alle wach, aufgeweckt von den klappernden Dosen.
Das Merkwurdigste ist – Brian ist sich allerdings nicht ganz sicher, ob er sich das nicht nur einbildet –, dass das Klappern aus allen Richtungen zu kommen scheint. Die Dosen larmen sowohl hinter der Villa wie auch vor ihr. Brian reckt den Kopf, um besser sehen zu konnen, als die Tur zu seinem Zimmer aufgeht.
»Alles klar?« Philip steht mit nacktem Oberkorper im Turrahmen. Er tragt Jeans und Stiefel, die er aber noch nicht zugeschnurt hat. In einer Hand halt er die alte Flinte, und seine Augen sind vor Aufregung weit aufgerissen. »Du schnappst dir die Heugabel, sie steht hinten in der Diele. Schnell!«
»Bei?er?«
»Jetzt mach schon!«
Brian nickt und eilt aus dem Zimmer. Vor Panik beginnt er zu keuchen. Er tragt nichts weiter als eine Jogginghose und ein armelloses T-Shirt. Als er durch die Villa rennt – die Treppe hinab, quer durch den Salon und in den Gang hinaus –, sieht er, wie sich drau?en etwas bewegt. Es kommt naher. Naher.
Er schnappt sich die Heugabel, die an die Tur gelehnt ist, dreht sich um und eilt zum Salon.
Nick, Philip und Penny warten bereits am Treppenabsatz auf ihn. Zusammen eilen sie zum Erkerfenster, das einen guten Rundblick auf die umliegenden Gartenanlagen, die sanft abfallende Einfahrt zur Stra?e und die Obstplantage bietet. Die geduckten Schattenumrisse sind nicht zu ubersehen. Sie nahern sich aus drei Richtungen dem Haus.
»Sind das Autos?«, fragt Nick kaum horbar.
Als sich ihre Augen an die Finsternis gewohnt haben, merken sie, dass es sich tatsachlich um Fahrzeuge handelt, die langsam uber das Grundstuck auf die Villa zufahren. Eines kommt die Auffahrt hoch, ein anderes nahert sich von Norden her durch die Obstplantage, und ein drittes ist im Suden erkennbar, wie es auf einem Kiesweg aus dem Waldchen kommt.
Mit einer beinahe perfekten Synchronisation halt jedes Auto in gleicher Entfernung zur Villa an und wartet einen Augenblick lang. Sie sind jetzt keine funfzehn Meter mehr entfernt. Die Windschutzscheiben sind zu dunkel, als dass man die Insassen erkennen konnte. »Das ist kein Begru?ungskomitee«, murmelt Philip trocken.
Plotzlich und beinahe wieder synchron gehen die Lichter an. Der Effekt ist recht dramatisch. Die Lichtstrahlen treffen auf die Fenster der Villa und erhellen das dunkle Innere. Philip ist bereits auf dem Sprung, nach drau?en zu gehen, um den Eindringlingen mit seiner nicht funktionierenden Flinte ein Gefecht zu liefern, als aus dem hinteren Teil des Hauses ein lautes Krachen zu ihnen dringt.
»Schatz, du bleibst bei Brian«, bittet er Penny, ehe er Nick einen Blick zuwirft. »Nicky, ich will, dass du aus einem Seitenfenster kletterst. Nimm die Machete und versuch, sie von hinten zu uberraschen. Verstanden?«
Nick wei? genau, was er machen soll, und verschwindet im Seitengang.
»Bleibt hinter mir, dicht hinter mir.« Philip hebt die Flinte, der Kolben ruht auf seiner Schulter. Vorsichtig und mit einer beinahe unheimlichen Ruhe schleicht er generalstabsma?ig zur Kuche, aus der jetzt die Gerausche von Schritten auf zerbrochenem Glas zu ihnen dringen.
»Jetzt mal locker, Burschchen!«, schlagt der Eindringling mit einem gut gelaunten Tennessee-Akzent vor und richtet den Lauf einer Neun-Millimeter-Glock auf Philip, als dieser die Kuche mit erhobener Flinte betritt.
Ehe man ihn so unsanft unterbrach, sah sich der Einbrecher mit aller Seelenruhe in der Kuche um, als ob er gerade erst aufgestanden und mal kurz zur Speisekammer getapst ware, um sich einen Mitternachtssnack zu gonnen. Das Licht der Scheinwerfer dringt von drau?en in die Kuche. Die Fensterscheibe uber dem Turknauf ist kaputt – so hat sich der Eindringling offensichtlich Zugang verschafft –, und das blasse Licht der Morgendammerung steigt langsam uber den Horizont.
Der Mann ist mindestens einen Meter neunzig gro?, tragt eine abgenutzte Tarnhose, schmutzige Stiefel und eine blutbesudelte, kugelsichere Weste aus Kevlar. Auf seinem vernarbten Kopf wachst kein einziges Haar mehr, und seine Augen gleichen zwei Kratern, die von winzigen Meteoriteneinschlagen verursacht wurden. Bei genauerer Betrachtung macht er einen kranken Eindruck, so als ob er einer zu hohen Dosis Strahlung ausgesetzt worden ware. Seine blassgelbe Haut ist von Wunden und Geschwuren ubersat.
Philip zielt mit der nutzlosen Antiquitat auf den Schadel des Eindringlings – sie stehen etwa zwei Meter voneinander entfernt. Philip tut so, als ob sie geladen ware. Er scheint es beinahe selbst zu glauben. »Hm, ich drucke mal ein Auge zu«, sagt er, »und gehe davon aus, ihr habt gedacht, dass hier niemand mehr wohnt.«
»Du sagst, wie es ist, Burschchen«, erwidert die Glatze gelassen und klingt beinahe so, als ob er unter Medikamenten- oder Drogeneinfluss stunde. Seine Zahne sind mit Goldkronen versehen und funkeln, als er ein reptilienartiges Grinsen zeigt.
»Dann bedanken wir uns schon mal, dass ihr uns in Ruhe lasst. So passiert euch auch nichts.«
Der Glatzkopf mit der Glock runzelt die Stirn. »He, das ist aber nicht nett von euch!« Der Mann leidet unter einer nervosen Zuckung, die seine Gewaltbereitschaft erahnen lasst. »Hab schon gesehen, dass ihr ein nettes, junges Ding da drinnen habt.«
»Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.« Philip weicht keinen Zentimeter. Er hort die Tur knarzen, dann nahern sich Schritte vom Salon her. Philip ist hin und her gerissen. Einerseits hat er Angst, was als Nachstes passieren konnte, andererseits will er dem Kerl zeigen, wer hier das Sagen hat. Er wei?, dass die nachsten Sekunden entscheidend sind – vielleicht sogar uber Leben und Tod. Aber es fallt ihm erst einmal nichts anderes ein, als Zeit zu schinden. »Wir wollen kein Blut vergie?en, Junge, und ich kann garantieren, dass es deines ist, das zuerst flie?t, falls etwas passiert.«
»Gro?e Klappe, wie ich sehe.« Plotzlich ruft er etwas zu einem Kumpan in der Dunkelheit. »Shorty?«
Eine Stimme antwortet. »Alles klar, ich habe ihn, Tommy!«
Im selben Moment taucht Nick vor der kaputten Fensterscheibe der Terrassentur mit einem gro?en Bowiemesser an der Kehle auf. Ihm folgt ein abgemagerter junger Kerl mit Pickeln und Burstenhaarschnitt. Der Typ sto?t die Tur mit dem Fu? auf und schubst Nick in die Kuche.
»Tut mir leid, Philly«, achzt dieser, ehe er gegen einen Schrank prallt und ihm einen Moment lang der Atem wegbleibt. Der schlanke Kerl mit dem Burstenhaarschnitt halt das Messer an Nicks Adamsapfel gedruckt. Die Machete hat er in den Gurtel gesteckt. Das hibbelige, knocherne Exemplar von Mann mit den fingerlosen Handschuhen macht den Eindruck, als ob es soeben aus dem Gefangnis ausgebrochen ware. Er hat die Armel seiner Tarnjacke abgetrennt, und seine langen, dunnen Arme sind mit Tattoos nur so ubersat.
»Jetzt mal ganz ruhig«, wendet sich Philip an die Glatze. »Es gibt keinen Grund …«
»Sonny!« Der haarlose Riese ruft einen weiteren seiner Schergen, und im selben Moment ertonen knarzende Schritte auf dem hundert Jahre alten Holzfu?boden im Wohnzimmer. Philip halt seine Flinte noch immer auf den Glatzkopf gerichtet, wagt aber einen raschen Blick uber die Schulter. Brian und Penny stehen zusammengedrangt hinter ihm, vielleicht eineinhalb Meter von ihm entfernt.
Zwei weitere Gestalten tauchen hinter Brian und Penny auf. Das kleine Madchen zuckt verangstigt zusammen.
»Alles unter Kontrolle, Tommy!«, meldet einer der Neuankommlinge und halt einen gro?en Revolver in die Luft, damit ihn alle sehen konnen – 357er Magnum oder 45er Army, ist nicht genau zu erkennen. Dann richtet er ihn auf Brians Hinterkopf. Philips Bruder erstarrt wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Es reicht«, meldet sich Philip erneut zu Wort.
Aus dem Augenwinkel sieht er, dass es sich bei den beiden Gestalten, die Brian und Penny in Schach halten,