Er geht erneut hinter dem Baumstamm in Deckung und wagt panisch samtliche Alternativen ab. Wenn er jetzt loslauft, wird man ihn zweifelsohne bemerken. Wenn er sich jedoch nicht vom Fleck ruhrt, wird irgendwer mit Sicherheit uber ihn stolpern. Wo zum Teufel sind Philip und Nick?
Plotzlich hort Brian in einer anderen Richtung das Brechen von Asten. Jemand taucht hinter dem ersten Mann auf und wird immer schneller.
Erneut lugt Brian uber den Baum und erkennt die Silhouette seines Bruders – etwa funfzig Meter von ihm und Penny entfernt –, der durch das Unterholz auf den ersten Kerl zu schleicht. Brian lauft es eiskalt uber den Rucken, und sein Magen verkrampft sich vor Panik.
Da sieht er, wie sich Nick Parsons aus dem Schatten auf der anderen Seite mit einem Stein in der Hand erhebt. Er wartet einen Augenblick und wirft dann das grapefruitgro?e Geschoss drei?ig Meter quer durch die Obstplantage.
Der Stein trifft mit einem lauten Knall auf einen Baum, sodass der Verfolger mit dem Gewehr verdutzt stehen bleibt.
Er dreht sich um und druckt in Richtung des Aufpralls ab. Der Schuss lasst die Obstplantage erzittern, und Penny schreckt zusammen. Brian duckt sich wieder. Zuvor sieht er noch, wie ein Schatten auf den Mann zuschnellt, ehe dieser eine Chance hat, einen zweiten Schuss auf die Buche abzufeuern.
Philip Blake taucht aus dem Gestrupp auf und schwingt die antike Flinte. Der Gewehrkolben trifft den Schutzen so hart mitten auf den Hinterkopf, dass er beinahe aus seinen Schuhen fliegt. Er lasst das Gewehr fallen und sackt wie ein nasser Sack auf moosbedeckten Boden.
Brian wendet sich ab. Er legt Penny eine Hand uber die Augen, wahrend Philip rasch und beinahe barbarisch dem Schadel vier weitere Hiebe verabreicht, um ganz sicherzugehen, dass der andere fur immer schachmatt ist.
Die Verhaltnisse haben sich nun fast unmerklich verandert. Philip entdeckt eine kleine Achtunddrei?iger mit kurzem Lauf im Gurtel des Mannes. Dazu eine Tasche Munition und einen Schnelllader, und Nick und Philip fuhlen sich besser. Brian schaut gebannt aus funfzig Metern Entfernung zu.
Er atmet erleichtert auf. Ein Funken Hoffnung blitzt in ihm auf. Sie konnen sich jetzt aus dem Staub machen und wieder von vorne anfangen. Auf jeden Fall stehen die Chancen wesentlich besser als zuvor, den Tag zu uberleben. Doch als Brian seinem Bruder und Nick signalisiert, zu ihm zu kommen, erstarrt er vor Schreck, als er Philips Miene in dem blassen Morgenlicht bemerkt. Panik breitet sich in Brians Eingeweiden aus.
»Wir werden diese Wichser allemachen«, knurrt Philip. »Bis auf den Letzten werden wir sie ausrotten.«
»Aber, Philip! Was, wenn wir einfach …«
»Wir holen uns unsere Villa zuruck. Sie gehort uns, und die werden es nicht uberleben.«
»Aber …«
»Jetzt hor mir gut zu.« Etwas in Philips Augen lasst Brian erschauern. »Du musst meine Tochter in Sicherheit bringen – ganz gleich, was passiert. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja, aber …«
»Das ist deine Aufgabe – nicht mehr und nicht weniger.«
»Okay.«
»Pass gut auf sie auf. Schau mir in die Augen. Kannst du das fur mich tun?«
Brian nickt. »Klar. Logisch, Philip. Aber ich will nicht, dass ihr euch in den Tod sturzt.«
Philip antwortet nicht. Er reagiert nicht einmal, sondern starrt ihn nur an, wahrend er das Gewehr ladt und sich dann an Nick wendet.
In wenigen Augenblicken sind die beiden kampfbereit und verschwinden zwischen den Baumen. Brian bleibt wieder allein mit Penny und ohne Waffe zuruck. Er ist vor Angst gelahmt und panisch vor Unentschlossenheit. Seine nackten Fu?e bluten. Will Philip, dass er hierbleibt? Was ist eigentlich der Plan?
Ein Schuss hallt durch den Hain. Brian zuckt zusammen. Es folgt ein weiterer, dessen Echo uber den Wipfeln widerhallt. Brian ballt die Hande so stark zu Fausten, dass sie beinahe zu brechen drohen. Soll er einfach nur dasitzen und abwarten?
Er zieht Penny eng an sich. Ein weiterer Schuss ertont. Diesmal naher. Ihm folgt ein gedampftes, wassrig klingendes Wurgen wie bei einem Todeskampf. Brians Gedanken beginnen erneut zu rasen.
Schritte kommen naher. Brian wagt einen raschen Blick uber den Baumstamm. Es ist der Glatzkopf mit seiner Neun-Millimeter-Glock, die er wild durch die Gegend schwenkt.
Er steuert direkt auf sie zu, das vernarbte Gesicht vor Rage verzerrt. Der leblose Korper des durren Jungen Shorty liegt drei?ig Meter entfernt von ihm. Der Kopf ist halb weggeblasen.
Ein neuer Schuss hallt durch den Wald. Brian duckt sich hinter den Baumstamm. Das Herz schlagt ihm bis zum Hals. Er ist sich nicht sicher, ob es den Glatzkopf erwischt hat oder ob er derjenige war, der schoss.
»Los, Kleine«, flustert Brian der erstarrten Penny zu, die sich im Gestrupp zusammengeduckt hat. »Wir mussen jetzt von hier weg.«
Er zieht sie aus dem Unterholz und nimmt ihre Hand, da es zu gefahrlich ist, sie auf dem Rucken zu tragen. Hastig zerrt er sie fort – fort von den Schussen.
Sie kriechen zwischen den Pfirsichbaumen hindurch, wobei sie stets im Dickicht weitab von den Wegen bleiben, die durch die Obstplantage fuhren. Brians Fu?sohlen sind so geschunden und eisig, dass er kaum noch etwas spurt. Plotzlich hort er Stimmen hinter ihnen, einige Schusse und dann Stille.
Eine lange Zeit uber weht lediglich der Wind durch die Aste. Ab und zu glaubt er rasche Schritte zu horen. Ganz sicher ist er sich aber nicht, da sein Herz so laut hammert. Entschlossen arbeitet er sich mit Penny durch den Hain.
Nach weiteren hundert Metern stehen sie vor einem alten Heuwagen, hinter dem sie in Deckung gehen. Brian ringt nach Luft und druckt Penny eng an sich. »Alles okay, Kleines?«
Penny streckt ihm ihren Daumen entgegen, aber die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Plotzlich dringen ungewohnte Gerausche an Brians Ohr. Er erstarrt, duckt sich aber dann und spaht durch die Bretter des Heuwagens. Ungefahr funfzig Meter vor ihnen lauft eine Gestalt durch einen Wassergraben. Sie ist gro? gewachsen und schlaksig und halt ein Gewehr in einer Hand. Dummerweise ist sie noch zu weit entfernt, als dass Brian mit Sicherheit sagen konnte, um wen es sich handelt.
»Daddy?«
Pennys Stimme lasst Brian zusammenzucken, auch wenn es kaum mehr als ein Flustern ist – aber immerhin laut genug, um sie zu verraten. Er legt dem Kind die Hand auf den Mund, ehe er wieder hochblickt, um erneut einen Blick auf die Gestalt in dem Graben zu werfen.
Doch der Mann, der auf sie zukommt, ist nicht der Vater des kleinen Madchens.
Der Schuss zerfetzt den halben Heuwagen. Brian wird in einer Wolke aus Staub zu Boden geschleudert. Er spuckt Erde und fasst so lange nach Penny, bis er endlich einen Zipfel ihres Oberteils erwischt. Hastig kriecht er tiefer in den Hain, Penny stets hinter sich. Nach ein paar Metern rappelt er sich auf die Beine. Jetzt sollte es wieder schneller vorangehen. Aber irgendetwas stimmt nicht.
Das kleine Madchen macht keinerlei Anstalten mehr, sich selbststandig zu bewegen, so als ob es das Bewusstsein verloren hat.
Brian hort das Knirschen von Schritten hinter sich und wie das Gewehr erneut geladen wird. Der nachste Schuss soll todlich sein. Panisch nimmt er Penny auf den Rucken und rennt dann so schnell er kann auf die nachsten Baume zu. Es dauert nicht lange, bis er merkt, dass er blutverschmiert ist. Das Blut rinnt uber sein Shirt und durchtrankt es.
»Um Gottes willen, nein! O Gott, o Gott, o Gott …« Brian legt Penny sanft auf den weichen Untergrund. Ihr blutleeres Gesicht ist kreidebleich. Ihr Augen sind glasig und starren in den Himmel. Sie zuckt, schluckt mehrmals, und ein rotes Rinnsal flie?t ihr aus dem Mundwinkel.
Brian hort den Killer kaum noch, wie er sich mit raschen Schritten nahert, die zweite Patrone einlegt und durchladt. Pennys T-Shirt ist von dem scharlachroten Lebenssaft vollig durchnasst. Er entdeckt die Stelle, an der die Schrotkugeln wieder aus ihrem Korper ausgetreten sind. Die Wunde hat einen Durchmesser von etwa funfzehn Zentimeter. Schrot aus einer Zwanzig-Kaliber-Patrone hat genugend Durchschlagskraft, um Stahl zu durchschlagen. Es sieht ganz so aus, als ob das Kind mindestens die Halfte des Schrots in den Rucken bekommen hatte und die Metallkugelchen aus seinem Bauch wieder ausgetreten waren.
Der Killer kommt naher und naher.
Brian hebt das T-Shirt hoch, und Penny gibt ein qualvolles Stohnen von sich. Seine Hand reicht nicht, um den