«Sie fahren doch morgen nach Konigsberg?«

«Hat sich det schon rumjesprochen? Ja, wir dampfen nach Konigsberg.«

«Wie weit ist das?«

«Von hier?«Paschke kniff die Augen zusammen und sah in den fahlen Himmel. Morgen regnet's, dachte er. Eine Schei?fahrt wird das werden. Die russischen Stra?en sind wahre Knochenbrecher.»Luftlinie unjefahr 800 Kilometer. Aber uber die Stra?en werden's ooch uber 900 sein. Wird 'ne Qualerei. Und wenn's regnet, sitzen wir bis zum Arsch im Schlamm. So is det…«

«Ich mu? nach Konigsberg«, sagte Jana Petrowna ohne einen falschen Unterton. Es klang vollkommen glaubhaft.»Zum Lazarett II. Bin dorthin versetzt. «Ob es ein Lazarett II gab, wu?te sie nicht, auch nicht, ob man Lazarette uberhaupt so nannte, sie wagte es einfach, es so zu nennen.

«Konigsberg is scheen. Dat wird Sie jefallen, Schwesterchen. Wenn Se mal uf der Kurischen Nehrung jebadet haben… det is'n Erlebnis, sag ick Sie.«

«Nehmen Sie mich mit?«

«Ick? Nach Konigsberg? Mit so 'nem Rappelkasten? Woll'n Se nen roten Affenhintern haben?«

«Mit der Bahn ist es noch unbequemer. Von hier nach Pleskau, dann nach Rositten, weiter nach Memel… ich habe mich erkundigt.«

«Fahrt denn von hier keen LaZ nach Konigsberg?«

«Nein, morgen fahrt kein Lazarettzug nach Ostpreu?en. Aber ich mu? morgen weg. Der letzte Termin. Warum kann ich denn nicht mit Ihnen fahren?«

«Weil det verboten is, Su?e. Sonderkommando, vastehste? Jesperrt fur alle Zivilisten.«

«Ich bin kein Zivilist. Ich bin eine Rote-Kreuz-Schwester.«

«Det stimmt nu ooch wieda. «Julius Paschke betrachtete Jana wieder von der Seite — is'n verdammt hubsches Pferdchen, dachte er — und sturzte sich damit in einen Gewissenskonflikt.»Madchen, ick kann doch nich…«

«Bitte. «Sie legte ihm die Hand auf den Arm und streichelte ihn. Paschke bekam einen Klo? in den Hals, das Hammern seines Herzens setzte wieder ein wie damals, als er im Puff von Riga der rothaarigen Eina gegenuberstand und als Eintrittskarte seine Packung Praservative vorzeigen mu?te.»Mich wird auch keiner sehen und entdecken. Ich verstecke mich im Wagen hinter den Kisten.«

«Det konnen aba jut drei Tage werden… wenn's regnet.«

«Das macht mir nichts aus.«

«Madchen, und wennste mal strullen mu?t?«Jana verstand das Wort nicht. Was ist strullen, dachte sie. In ihrem Wortschatz kam es nicht vor. Ich werde Vaterchen fragen. Tapfer sagte sie:

«Ich mu? nicht.«

«Drei Tage lang?«Paschke sah sie zweifelnd an.»Det war'n medizinisches Wunder. Aba wennste det anhalten kannst, nachts kannste dann abprotzen…«

«So ist es. «Jana Petrowna lachelte Julius Paschke umwerfend an.»Sie nehmen mich also mit?«

«Ick wee? nich, ich wee? nich… wenn ick uffalle, dann sind de Litzen weg. Dann bin ich wieda Schutze Arsch. La? mir det uberlejen, Madchen. Komm morjen fruh noch mal, aber noch wenn's dunkel is. Ick sitz dann wieda uffm Trittbrett.«

Jana Petrowna legte den Arm um Paschkes Schulter, gab ihm einen Ku? auf die Stirn und sagte» Danke! Danke! Danke!«Dann huschte sie weg, so lautlos wie sie gekommen war. Den knirschenden Kiesboden schien sie nicht zu beruhren.

Paschke starrte ihr nach, bis sie an der dunklen Hauswand verschwand. Ein schwebender Schatten.

Da sitzte nun und kneifst de Beene zusammen, dachte er. So'n junstiger Oogenblick kommt nich wieda. Und wahrend der Fahrt nach Konigsberg is ooch nix drin, und in Konigsberg, im Lazarett, schnappen die Offiziere se wech.

Allet Schei?e, deene Emma -

Er steckte sich eine neue Zigarette an, rauchte hastig und wunschte sich einen ganzen Kasten voll Pissulin…

In dieser Nacht noch nahmen Michael Wachter und Jana Petrowna Abschied voneinander. Sie umarmten sich ange, ku?ten sich nach russischer Art dreimal auf die Wangen, nur wenige Worte sprachen sie, was sollte man jetzt auch noch sagen. Aber als sie sich voneinander losten, hob Wachter beide Hande uber Janas Kopf.

«Mein Tochterchen«, sagte er feierlich,»Gott segne dich. Gott moge dich beschutzen. Horst du mich, Gott? La? sie nicht aus den Augen, erhalte mir mein Tochterchen und Nikolaj, meinen Sohn. Wenn es sein mu? — nimm mich. Herr, erbarme dich unser… Amen.«

In aller Ruhe packten sie wortlos Janas schwarze Wachstuchtasche. Sie nahm kaum etwas mit, ein paar Stucke Unterwasche, dicke Strumpfe, denn der Winter kam bestimmt, und Wachter sagte, es wurde ein besonders schlimmer Winter werden. Die Stare und Storche seien fruher als sonst nach Suden geflogen, die Wildenten sammelten sich bereits, und die Biber im weiten Schlo?park schleppten fur die langen, wei?en Monate Futter in ihre Bauten.

«Du bleibst also hier?«fragte Wachter, als die Tasche gepackt war.

«Vorlaufig, Vaterchen. Ich melde mich im Lazarett in der Gor-kij-Schule. Irgendwie komme ich auch in die Nahe, wo du bist. Und wenn der Krieg schnell beendet ist, fahre ich sofort nach Leningrad zu Nikolaj.«

Er sah ihr zu, wie sie das Haubchen auf ihr Haar setzte, den Kragen mit der runden Brosche schlo? und ihren grauen Mantel uber die Schultern warf. Gott hat mich gesegnet, da? mein Sohn eine solche Frau bekommt, dachte er. Immer schon hat-ten die Wachters Gluck mit ihren Frauen gehabt, selbst Urgro?vater Pjotr Germanowitsch, der drei au?ereheliche Kinder hatte, gottlob nur Madchen. Jeden Fehltritt hatte Urgro?mutter ihm verziehen, sogar die gefahrliche Liebe zu der Zarenkochin Wassilissa Valentinowna. Sie hatte den Ehrgeiz, die zweite Frau Wachterowskij zu werden, aber Urgro?vater machte ihr ein Kind, und die sittenstrenge Zarin verbannte sie als Gefangniskochin auf die Peter-und-Pauls-Festung.

«Was ist strullen, Vaterchen?«fragte Jana Petrowna plotzlich.»Pinkeln.«

«Und abprotzen?«

Wachter sah Jana verblufft an.»Woher hast du die Ausdrucke?«

«Soldaten haben davon gesprochen… unter dem Fenster.«»Abprotzen nennen die Soldaten, wenn sie hinter einen Busch gehen, sich hinhocken…«

«Ach so. «Jana griff nach ihrer Wachstuchtasche und hob sie hoch. Wachter spurte, wie ihm die Kehle eng wurde. Der Abschied, die letzten Minuten, die letzten Worte, die letzten Blicke. Vielleicht fur immer… endgultig.»Auf Wiedersehen, Vaterchen.«

«Auf Wiedersehen, Tochterchen. Gott sei mit dir.«

«Und mit dir, Vaterchen. Wir sehen uns bald wieder.«»Bestimmt sehen wir uns wieder.«

Er ri? ihr die Tur auf, lie? sie aus der Wohnung und machte die Tur schnell wieder zu. Ein langer Abschied ist eine unendliche Qual.

Mit gesenktem Kopf tappte Wachter in das Wohnzimmer zuruck, setzte sich auf das Sofa und starrte auf seine drei Koffer. Konigsberg. Mein Konig… die Wachters haben bisher immer ihre Pflicht erfullt. Sie haben es Euch in die Hand versprochen.

Auf seinem Trittbrett sa? Julius Paschke und wartete auf das schone Schwesterchen. Er hatte einen Entschlu? gefa?t: Er nahm sie mit. Unter der Plane, hinter den Kisten. Dort hatte er in der vergangenen Stunde ein Lager fur sie hergerichtet: drei Decken ubereinander, in die Ecke gequetscht einen Eimer, den man dann in der Nacht leeren konnte. Ein Problem war nur sein Beifahrer, der Gefreite Heini Doll. Er war in Koln geboren und durfte gar nicht anders hei?en als Doll. Wenn er Witze erzahlte, schmerzte nach einer Viertelstunde das Zwerchfell. Das war die eine Seite. Die andere war ein strammer Nationalsozialist. Dolls Vater war ein politischer Leiter in Koln. Er arbeitete in der Propagandaabteilung der Kreisleitung Koln-Mitte und glaubte alles, was Goebbels in seiner wochentlichen Kolumne in der Zeitschrift Das Reich herunterlog. Wenn Doll den blinden Passagier entdeckte, begann die Kacke zu dampfen.

So lautlos wie beim ersten Mal stand Jana Petrowna plotzlich wieder vor Paschke. Sie wuchs einfach aus dem Schatten heraus. Paschke zog die Luft durch die Nase ein und zeigte dann auf die schwarze Wachstuchtasche.

«Det is alles?«

«Ja. In Konigsberg bekomme ich eine neue Ausstattung.«

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