Wachter verbi? sich eine Frage, die ihm auf der Zunge lag. Glauben Sie wirklich, hatte er fragen mogen, da? die Deutschen Moskau erobern? Nur drei, vier Wochen noch, hochs-tens, dann ist der Winter, die Schnee- und Eiszeit da. Der» General Winter«, wie er seit Napoleons Untergang vor Moskau hei?t. Hat einer von euch schon einen russischen Winter erlebt? Wi?t ihr, wenn der Schneesturm uber das Land heult, wie armselig ihr dann alle seid, trotz eurer Technik, trotz Panzer und Flugzeugen? Vereisen werden sie alle, am Boden friert ihr fest… da hilft euch kein Befehl von Hitler, nur vorwarts und nicht zuruck zu marschieren. Der russische Winter ist starker als alles… er macht mit euch, was er will, nicht, was ihr wollt. Und gegen General Winter wollt ihr Moskau besetzen? Warten wir es ab, meine Lieben. Kommt nicht jetzt schon die Front vor Moskau zum Stehen?

Rittmeister Dr. Wollters schwieg. Die Belehrungen, die ihm Dr. Runnefeldt so freundlich erteilte, kotzten ihn an. Auch er zerrte aus der Hosentasche ein Taschentuch und stopfte es in die Verdeckritze; aber bei ihm half das wenig, es war in kurzer Zeit durchna?t. Der Regen tropfte auf seine Uniform, als sei das zusammengedrehte Taschentuch ein Wasserhahn.

«Gibt es denn hier nichts, womit man das Schei?verdeck dicht kriegt?«rief er emport.»Ich bin bis auf die Haut na?.«

«Hier hinten ist es ertraglich. «Dr. Runnefeldt dehnte sich behaglich.»Es war Ihr Wunsch, vorn zu sitzen.«

Dr. Wollters bi? die Zahne zusammen. Und wenn ich hier vorn schwimme… du bringst mich nicht dazu, meine Meinung zu andern, dachte er verbissen. Das Mitschleppen dieses Halbrussen ist und bleibt eine Frechheit.

Zur Mittagszeit machten sie Rast an einem Bauernhof. Die Bauerin, zwei Kinder — eine Tochter und ein Junge von 14 Jahren — und der Gro?vater waren beim Einmarsch der Deutschen nicht geflohen, sie hatten die graue Lawine uber sich hinwegrollen lassen, hatten miterlebt, wie die deutsche Artillerie und die gefurchteten heulenden Stukas, die aus dem Himmel herausfielen, die Stalin-Linie, die vermeintlich uneinnehmbare Verteidigungslinie der Roten Armee, zerbombten und zerschlugen, und hatten damals beschlossen, lieber in den Trummern ihres Hauses zu sterben, als davonzulaufen. Nicht weit von ihnen lag die Stadt Pskow, das jetzt Pleskau hie?, und hier hatte vor zweihundert Jahren der Leibeigene des Fursten Michajlow, der Bauer Jermil Konstantinowitsch Gri-maljuk einen Hof zur Betreuung ubernommen. Nach Ende der Leibeigenschaft durften die Grimaljuks Haus und Land behalten, lebten bescheiden, aber zufrieden, fuhren oft zum Fischen an den nahen Peipus-See und lobten Gott ob seiner Gute. Jetzt war der Bauer, der Genosse Ilja Wladimirowitsch, als Scharfschutze irgendwo an der Front. Es gab keine Nachricht, keinen Brief, keine Karte — wie auch, seine Heimat war jetzt besetztes Gebiet geworden —, und niemand wu?te, ob er noch lebte.

Praskowja Nikolajewna, die Bauerin, die Kinder und vor allem Trofim, das noch recht muntere Gro?vaterchen, hatten sich, so gut es eben ging, mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie hatten das Korn gemaht, die Sommerkartoffeln aus dem Feld gezogen und die Gemusebeete geharkt, um dann alles, was man nicht selbst zur Ernahrung brauchte, den deutschen Besatzern zu verkaufen. Dabei hatte man sie zweimal elend betrogen… ein Schwein und ein Kalbchen hatten die Deutschen gekauft und mit deutschen Geldscheinen bezahlt.

«Das Geld«, hatten de Landser gesagt.»Germanskij Rubel, du verstehen? Einlosen in Kommandantur. Tauschen, kapiert? Menjat'… Guck nicht so blod, alter Sack!«

Gro?vater Trofim nahm die Geldscheine, fuhr drei Tage spater zum Ortskommandanten von Nostrow und legte Germanskij Rubel vor. Ausgelacht hatte man ihn und dann hinausgeworfen. Was er auf den Tisch legte, waren alte deutsche Lotterielose. Winterhilfswerk 1940.

Praskowja Nikolajewna stand in ihrer ausgebleichten Kittelschurze vor dem Haus, gegen den Regen einen Sack uber den Kopf gestulpt, als Dr. Runnefeldts Auto auf dem Hof hielt. Die Kinder druckten die Nasen am Fenster platt, und Gro?vater Trofim bereitete sich darauf vor, gegen deutsche Lotterielose zu opponieren.

Dr. Wollters blickte mi?mutig durch die Scheibe auf die Bauerin und das alte Haus. Der Regen rauschte, als gie?e man Eimer aus. Der Scheibenwischer kampfte vergeblich gegen die vom Wind herangetriebene Flut an.

«Hier?«fragte er und drehte sich wieder um.

«Ja«, antwortete Dr. Runnefeldt.

«In dieser Bruchbude? Diesem Wanzennest? Sehen Sie sich mal das Weibsstuck an… nur mit der Kneifzange anzufassen…«

«Wir wollen sie nicht anfassen, mein lieber Wollters, sondern eine Pause machen, etwas essen und trinken.«

«Da ruhre ich nichts an! Soll ich vor Ekel die Gelbsucht bekommen?«

«Meistens haben die Bauern hier einen guten, frischen Quark«, sagte Wachter und erntete dafur einen bosen, durchbohrenden Blick.»Milch, eingelegte Gurken, feste Zwiebeln, selbstgebackenes Brot und vielleicht auch Grutzwurstchen.«»Scheu?lich! Konnen wir nicht weiterfahren bis zu einer Truppe? Irgendwo hier mussen doch deutsche Einheiten liegen! Lieber eine miese Feldkuche als dieser Schweinefra?.«

«Wir mussen hier auf die Kolonne warten. «Dr. Runnefeldt setzte seine Mutze auf, schatzte den Weg vom Auto bis zur Haustur auf etwa drei Meter — man wurde also na? werden und durch einen aufgeweichten Boden springen mussen.»Wir sind noch gut durchgekommen, aber wie haben es die Lkws in diesem Sauwetter geschafft? Das beschaftigt mich mehr als Essen. Ich habe erst Ruhe, wenn die Wagen hier aufgefahren sind. «Er stie? die Tur auf, sprang aus dem Auto und hetzte mit gro?en Sprungen durch den Regen auf Praskowja zu. Wachter folgte ihm, der Schlamm spritzte an seiner Hose empor, an seinen Schuhen klebten sofort dicke Lehmklumpen. Stumm blickte der Fahrer zu Dr. Wollters an seiner Seite.

«O Schei?e«, sagte der Rittmeister resignierend. Dann stie? auch er seine Tur auf, sprang hinaus und rannte zu dem Bauernhaus. Praskowja Nikolajewna, die schon so viel von den Deutschen wu?te, um feststellen zu konnen, da? da ein hoherer Offizier durch den Schlamm hupfte, ri? den Kartoffelsack vom Kopf und warf ihn Wollters uber die Schulter. Mit einer wilden Handbewegung schleuderte er ihn in den Regen und den Dreck.

«Haben Sie das gesehen?«rief er emport, als er in die Stube kam, wo Dr. Runnefeldt und Wachter bereits auf Gro?vater Trofim geprallt waren.»Diese widerliche Vettel wirft mir doch ihren Stinksack an den Kopf!«Dann schwieg er abrupt, denn Gro?vaterchen sagte klar und deutlich:

«Gutten Tagg… Nix nahme Lotterie…«

«Was will er?«Wollters musterte den rustigen Alten.»Total verkalkt, was?«

«Lassen Sie mich das machen. «Wachter nickte dem Gro?vater zu und sprach dann schnell einige Satze auf russisch. Trofim ri? die Auglein auf, beleckte mit der Zunge seine tabakgelben Zahne und horte stumm zu. Gefahrlich, dachte er. Oh, wie gefahrlich. Da ist einer, der spricht wie wir. Ein a3-trunniger Genosse, der den Deutschen in den Arsch gekrochen ist. Vorsichtig mu? man sein bei solchen Gewissenlosen.»Wir sind auf der Durchfahrt«, hatte Wachter gesagt.»Wir wollen hier eine Weile bleiben, bis der starkste Regen vorbei ist. Hast du was zum Essen da? Eine Kascha oder sonstwas? Eingelegte rote Ruben oder Gurken oder ein Topfchen Schmalz? Gibt es bei dir Milch?«

Gro?vaterchen wolbte die Unterlippe vor, so wie es Lamas tun, bevor sie spucken, aber er spuckte nicht, auf keinen Fall, man wollte ja noch weiterleben und warten, bis Ilja, das liebe Sohnchen aus dem Krieg zuruckkam.

«Alles hat man uns weggenommen, alles«, sagte er, als Wachter schwieg.»Mein Schweinchen, mein Kalbchen, das Butterfa?, das Mehl, die Grutze, alles. Bezahlt haben Sie, deine neuen Freunde… mit wertlosem Papier.«

«Und wovon lebt ihr?«fragte Wachter.

«Ein paar Kartoffeln haben wir noch. Ein Suppchen, ein paar Zwiebeln… genug ist das. Schwer sind die Zeiten.«

«Was quatscht der Alte da?«fragte Dr. Wollters. Er zog seine durchna?te Uniformjacke aus, ging zu dem aus Flu?steinen gemauerten Ofen und hing sie uber eine gespannte Leine. Der Ofen gluckerte und war schon warm. Ich sage es doch, dachte Wachter zufrieden. Der Winter kommt diesmal schneller. Sie kennen ihre Natur genau, die Bauern, fruhzeitig heizen sie ihre

Ofen an, gut vollgesogen mit Warme sollen die Steine sein, bevor der erste kalte Sturm kommt.

Gro?vaterchen Trofim starrte den deutschen Offizier entgeistert an. Wollters hielt seine Hosen mit Hosentragern fest…breite, in buntem Muster gewebte, stabile Trager mit ledernen Schlaufen. Hatte man so etwas schon gesehen? So etwas gab es? Trofim konnte den Blick nicht von diesen Hosentragern losrei?en und verfluchte die Unmoglichkeit, sie nicht gegen ein Huhnchen eintauschen zu konnen.

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