besorgt an.

«Was haben Sie, Oberschwester?«

«Das ist ein Lied aus dieser Operette, Kindchen. Mein Gott, der Vogelhandler. Sechsmal habe ich den gesehen. Zuletzt im Metropol-Theater von Berlin. Mit Johannes Heesters in der Hauptrolle. Schenkt man sich Ro- o-o-sen in Ti-i-i-rol…«

Auf einer Buhne waren jetzt die Kulissen umgefallen, aber Friedas Gesicht glanzte vom Gluck der Erinnerung. Sie schwarmte heimlich von so vielem, von Zarah Leander und Ferdinand Marian, von Heinz Ruhmann und Werner Kraus, von Heinrich George und Kathe Gold, von Gustaf Grundgens und Brigitte Horney… aber das alles schlo? sie in ihren Panzer ein, um nicht irgendwo angreifbar zu sein.

«Gehst du allein ins Theater?«fragte sie mi?trauisch.»Naturlich. Ich will mir sogar ein Theater-Abonnement kaufen. Fur Sie auch, Oberschwester?«

«Danke, nein, mein Kind. Das sind festgelegte Tage, und ich will mich nicht binden.«

Das war ihr Geheimnis, ihr Credo, nach dem sie lebte: Nicht binden! Ganz gleich, was es war. Friedas Freiheitsdrang war allumfassend.

«Wann bist du wieder zu Hause?«fragte sie. Jana hob die Schultern.

«Ich wei? nicht, wie lange die Operette dauert.«

«Na, sagen wir zwei Stunden. «Frieda blickte provozierend auf die Uhr.»Jetzt ist es sieben Uhr. Um acht fangt's an, um zehn kann's aus sein. Um elf bist du wieder hier! Wird es spater, kriegen wir Streit.«

«Jawohl, Oberschwester.«

«Ich will nur dein Bestes, Kindchen.«

«Ich wei? es. Einen guten Abend noch, Oberschwester.«

«Du auch… Gern hab' ich die Frau'n geku?t… Ach Quatsch, das ist ja aus Paganini…«

Begleitet von Friedas Gebrull verlie? Jana das Zimmer und durch die Seitentur der Einlieferung das Krankenhaus. Im Wachraum der Ambulanz sa? wieder der Sanitater Karl Blu-decker und winkte ihr zu.

«Lange nicht gesehen, Schwester!«rief er.»Wo geht's denn hin? Ist verdammt glatt drau?en. Halten Sie sich richtig fest an Ihrem Kavalier.«

«Ich gehe allein ins Theater. Der Vogelhandler.«

«Ist das das Stuck, in dem jemand sagt: >Mit Vogeln bin ich aufgewachsen!<?«

«Bludecker, Sie sind ein Ferkel!«Jana schuttelte den Kopf.»Schamen Sie sich.«

«Wenn ich das mal konnte. «Bludecker grinste breit.»Viel Vergnugen, Schwesterchen. Ubrigens, ist schon lange her, da hat jemand nach Ihnen gefragt. Ein Unteroffizier aus Berlin.«»Julius Paschke.«

«Ja, so hie? er. 'ne tolle Type.«

«Und was haben Sie ihm gesagt?«

«>Da die Schwester — < habe ich gesagt >- bei Frieda arbeitet, mu?te er erst den Bunker knacken. Geh hin zu Frieda, aber vergi? nicht, 'nen Flammenwerfer mitzunehmen.< Da ist er abgezogen.«

«Um elf Uhr bin ich wieder hier.«

«Is gut. Ich hab Nachtdienst. Kannst jederzeit kommen, Schwesterchen. Noch mal, viel Vergnugen.«

An der Theaterkasse kaufte Jana Petrowna ein Abonnement fur vier Opern, zwei Operetten und drei Schauspiele, aber keine Karte fur den Vogelhandler an diesem Abend. Sie kehrte zum Schlo? zuruck und druckte die Klingel an der Tur eines

Seiteneingangs. Dreimal kurz, einmal lang… so wu?te Vaterchen Michail, wer drau?en stand.

Nach einer kurzen Wartezeit drehte sich der Schlussel. Aber nicht Wachter offnete, sondern ein anderer, fremder alterer Mann. Er schien gerade zu Abend zu essen, denn er kaute noch auf einem Bissen herum.

«Was is?«fragte er mi?mutig.»Rote-Kreuz-Schwester?! Ist was los? Kann hier jemand nicht kacken?«

«Hoflich sind Sie ja nicht!«schlug Jana Petrowna zuruck.»Warum auch?«Der kauende Mann sah sie mit leidvollem Blick an.»Machen Sie mal zehn Stunden lang Fuhrungen durchs Museum! Da fliegt Ihnen das Haubchen weg, Schwester. Bei den Besuchern? Da haben wir ein Gemalde im Saal neun. Leda und der Schwan. Von Boromai Martini. Wunderschon! Und da fuhre ich 'ne Landsergruppe durchs Schlo?, und was sagt einer von den Kerlen, nachdem er sich die Leda genau beguckt hat? >Nichts fur mich, Kumpels… die hat zu wenig Titten!< — So was mu? man sich gefallen lassen, mu? das runterschlucken… und da soll ich auch noch hoflich sein?!«

«Ich mochte zu Herrn Wachter.«

«Isser krank?«

«Nein, ich soll ihm einen Gru? uberbringen.«

Der griesgramige Mann trat zur Seite, gab den Eingang frei und zeigte eine Steintreppe hinauf.»Da oben, erstes Stockwerk, erster Flur links. Da wohnt er. Hat da ne Riesenwohnung und ist allein. Da kann er mit Rollschuhen von einem Raum zum anderen fahren. Ist neu bei uns, der Wachter. Extra fur'n Zimmer eingestellt, das sie jetzt aufbauen. Mu? ja ein gewaltiges Ding sein, das Zimmer, wenn es einen Wachter fur sich allein hat.«

«Danke«, sagte sie, ging an ihm vorbei und drehte sich an der Treppe noch einmal nach ihm um.»Sie mussen sich nicht soviel argern. Der Krieg bringt uns Sorgen genug.«

«Wem sagen Sie das, Schwester!«Der Mann wischte sich mit beiden Handen uber das zerfurchte Gesicht.»Ich habe drei Sohne an der Front. Einer ist schon von den Englandern gefangen. Druben, in Afrika, bei Marsa Matruh. Der wenigstens wird die Schei?e uberleben.«

«Ich hoffe, alle drei werden uberleben.«

Michael Wachter hob erstaunt den Kopf, als es an der Wohnungstur klingelte. Er las gerade in der Zeitung die Berichte von dem schrecklichen Wintereinbruch in Ru?land, der die deutschen Armeen vor allem vor Moskau lahmte. Zitternd vor Frost hatten sich die deutschen Truppen eingegraben, wahrend die russischen Divisionen, bestens ausgerustet fur die Kalte, ununterbrochen gegen die deutschen Stellungen anrannten. Wiederholte sich fur Hitler die Niederlage Napoleons vor Moskau?

Wachter legte die Zeitung weg, ging zur Tur, entriegelte sie und offnete.

«Tochterchen!«sagte er voller Freude, zog Jana in die Wohnung und umarmte sie.»Wie oft habe ich in den letzten Tagen an dich gedacht. Komm, zieh den Mantel aus, soll ich uns einen Tee kochen oder einen Grog… kalt ist's geworden, nicht wahr, und noch kalter wird es werden.«

Er hing ihren Mantel an einen Dielenhaken und fuhrte sie in die Wohnung. Sie war wirklich riesig… gro?e, hohe Raume, beheizt mit Kachelofen, die Decken mit kunstvollem Stuck verziert, Kassettenturen und ein Boden aus gewachsten Dielen. Die Einrichtung war uber hundert Jahre alt und stammte aus dem Besitz des Museums. Trotz der weiten Raume war es gemutlich warm und sogar ein wenig vornehm, wie es im Volksmund hei?t. Herrschaftlich.

Nachdem Wachter einen guten Grog aus Rum gebraut hatte, sa?en sie sich in den tiefen, breiten Sesseln gegenuber, und Jana erzahlte ihre Erlebnisse der letzten Tage.

«Diese Frieda Wilhelmi mu? ich kennenlernen!«rief Wachter aus.»Umarmen mu? ich sie! Keine bessere Stellung hattest du bekommen konnen.«

«Ich denke oft an Nikolaj, Vaterchen. «Jana Petrowna nahm vorsichtig einen kleinen Schluck von dem dampfenden Grog.»Wie wird es in Leningrad sein? Hungern und frieren werden sie. Tausende werden sterben… wie gut geht es uns, und wie schlecht wird es Nikolaj haben. Ob sie ihn zur Verteidigung eingesetzt haben? Ob er vorn in einem Bunker liegt?«

«Wer wei? das, Janaschka? Einmal werden wir es erfahren, kein Krieg dauert ewig. Jeden Tag bete ich, da? wir Nikolaj wiedersehen. Viel Gluck haben wir bisher gehabt. «Sie sprachen jetzt russisch miteinander, trosteten sich mit der gemeinsamen Sprache. Inmitten der fremden Raume und Mobel fuhlten sie sich so fast wie zu Hause.»Das Bernsteinzimmer ist gerettet.«

«Das Zimmer. «Jana lehnte sich in ihrem Sessel zuruck.»Du wolltest mir immer von dem Zimmer erzahlen, Vaterchen. Es ist wertvoll, ja, aber fur dich bedeutet es noch mehr als ein Kunstwerk. Und Nikolaj denkt genauso.«

«Es ist so, Tochterchen. Wie konnte ein Wachterowskij ohne das Bernsteinzimmer leben! Warum… oh, das ist eine lange Geschichte. Ungeheure Schicksale haben seine Wande erlebt — getrankt ist es mit Blut und Tranen, Liebe und Ha?, Elend und Gluck. Alles, was das Leben einem Menschen geben kann, ist im Bernsteinzimmer aufbewahrt. Seine Wande amen… wir Wachterowskij spuren es. Wir sehen die Wande an und sehen zweihundert Jahre Schicksal.«

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