scharf musterte, wie sie darauf reagierten. Im Bernsteinzimmer hingegen sa? er ganz allein auf einem geschnitzten, vergoldeten Stuhl in der Mitte des» Sonnenzimmers«, schwieg, blickte wie in unendliche Weiten und schien sein bisheriges Leben zu uberdenken… den schier ewig wahrenden Krieg gegen Schweden, die bisher uber 300 000 Gefallenen, die vielen Enthaupteten, Geraderten und Gepfahlten, die Gefolterten und zu Kruppeln Geschlagenen, die schleimigen Gunstlinge und die willigen, lusternen Matressen. Der Zarewitsch war nach Osterreich geflohen, um zu saufen und zu huren und sich als Werkzeug einer Verschworung gegen seinen Vater mi?brauchen zu lassen. Er dachte vielleicht an die schone Zeit in Holland und Frankreich, die ihm viele Erfahrungen und einen Tripper eingebracht hatte, der trotz Behandlung durch die Leibarzte Dr. Blumentrost, einem Deutschen, und Dr. Paulson, einem Englander, immer wieder ausbrach, oder auch an die wilden Saufgelage, die er manchmal veranstaltete, bei denen Huren in solchen Scharen zu Diensten waren, da? Dr. Blumentrost eines Tages zu ihm sagte:

«Majestat, schonen Sie sich. Geben Sie Ihr ausschweifendes Leben auf.«

Und Peter hatte ihn angebrullt:»Esel seid Ihr! Alle Esel!«

Bei der dritten Warnung hatte er Blumentrost und Paulson mit der Dubina verprugelt, so arg, da? sie von da an schwiegen und nur sorgenvoll das Wachsen seiner verschiedenen Krankheiten beobachteten: die schweren Beine, die Nieren- und Blasenschmerzen, die Harnsteine, die immer haufiger auftretenden Krampfe, das Schwanken zwischen Barenstarke und schlaffer Bettruhe.

Und an Katharina, seine Frau, dachte der Zar in dieser einsamen Stunde im neuen Bernsteinzimmer, an die Frau, die einmal Dienstmagd gewesen war, und jetzt, trotz aller wechselnder Matressen, der Ruhepol seines Lebens geworden war, die Frau, die er liebte und zur Kaiserin gemacht hatte, die ihm treu war — das glaubte er unerschutterlich — und bei der er ein Mensch und nicht nur der gefurchtete Zar sein konnte.

Welch ein Leben lag hinter ihm — und welch ein Leben hielt die Zukunft noch fur ihn bereit?

Ab und zu hob er den Kopf, lie? den Blick uber die Bernsteinmosaike, die Sockel, Schnitzereien, Figuren, Masken, Borduren und Gesimse gleiten: eine in der Sonne vom wei?lichen Gelb bis zum Braun schimmernde, ihn umschlie?ende, eigene Welt. Und er spurte, wie sich die Unruhe in ihm legte und dieses Zimmer seine heimliche, seelische Beichtkammer werden konnte. Hier, von tausendfaltigen Strahlen umgeben, konnte er sich vor sich selbst offenbaren und ehrlich gegen sich selbst sein.

Nach gut einer Stunde ri? der Zar die Tur auf und winkte den drau?en wartenden Wachter hinein.

«Begreif Er eins — «sagte er sehr ernst —»das hier ist mein Zimmer. Niemand anderes darf hinein! Nur wenn ich es befehle.«

«Auch nicht die Zarin, Majestat?«fragte Wachter.

«Sie darf… aber sie wird nicht. Nur ich und Er… und ich schicke Ihn nach Sibirien zu den Wolfen, wenn ein Fremder dieses Zimmer betritt.«

Der Zar ging zum Fenster, blickte hinaus uber die Newa und die Kanale und Inseln, uber die herrliche Stadt, die sein Werk war, herausgestampft aus einem sumpfigen, modrigen Boden, und sagte mit leiser Stimme:

«Umgeben bin ich von Arschleckern, Heuchlern, Intriganten, Verratern, Dieben, Mordern, Postenjagern und Ehrgeizlingen. Furchterlich ist es…«

«Jagt sie alle weg, Majestat.«

«Und dann? Die dann Kommenden sind nicht besser. Eine Hydra ist's… einen Kopf schlagt man ab und zwei neue wachsen nach! Habe ich Freunde? Ist Menschikow mein Freund? Schafirow? Dolgorukij? Trubezkoj? Romodanowskij? Ich wei? es nicht. Jeder wurde mich verraten, wenn es ihnen nutzt. Fjodor Fjodorowitsch, Er wird mich nie verraten.«

«Nie, Majestat. «Wachter trat neben den Zaren ans Fenster.»Schlagt mir den Kopf ab beim geringsten Verdacht.«

«Ein guter Mensch ist Er. Er und Seine Familie. Sein Sohn ist, wie ich gern einen Sohn gehabt hatte. Aber das Schicksal hat mir einen Schwachling, Saufer und Verrater beschert. Wachterowskij, sei Er mein heimlicher Freund. Ich wei?, Er begehrt nichts von mir, kein Amt, kein Furstentum, keinen Palast, keine Armee, keine Weiber… er ist nur da fur das Bernsteinzimmer. Und ich will, da? Er auch da ist fur mich. Bei Ihm will ich mich aussprechen und sagen, was keine anderen Ohren horen sollen. Hier in diesem Zimmer. Er soll der Trog sein, in den ich mein Herz ausschutte. Aber wehe, wehe Ihm, wenn ein einziges Wort davon bekannt wird. Auch bei seinem Weibe nicht.«

«Ich schlucke Ihre Sorgen in meine Seele, Majestat. Mit mir sterben sie.«

Der Zar nickte, legte den Arm um Wachter, ku?te ihn auf beide Wangen und verlie? dann das Bernsteinzimmer. Drau?en im Flur horte man ihn wieder mit den Hoflingen brullen. Zwei Zaren gab es jetzt in Petersburg: Peter den Gro?en, den machtigsten Herrscher Europas, und Peter Alexejewitsch Romanow, der immer morscher werdende Riese, der in seinem Bernsteinzimmer allein Gericht uber sich selbst hielt. Welch ein Zwiespalt, von dem die Welt nie etwas erfahren wurde!

Das Jahr ging voruber, Adele war wieder schwanger, Julius, unterrichtet von dem deutschen Lehrer Georg Thorfeld aus Hannover, las mit gluhenden Wangen medizinische Bucher und begleitete Dr. van Rhijn oft zu den Kranken.

Ein ruhiges, schones Leben ware es gewesen, wenn nicht am 21. Januar 1718 der nach Osterreich gefluchtete Zarewitsch Alexej nach Ru?land zuruckgekehrt ware. Eine List Peters hatte ihn aus der Sicherheit weggelockt… der Zar versprach ihm Gnade und Gute, wenn er ab jetzt ein guter Kronprinz sei, und er sicherte ihm sogar zu, da? er seine Matresse Afrosinja heiraten konne. Die Anhanger des Zarewitsch, die Grafen Tolstoj, Rumjanzew und Wesselowskij warnten ihn, aber allein die Aussicht, seine uber alles Geliebte als Zariza zu sehen, zerstreute bei Alexej alle Bedenken. Er lie? Afrosinja in Venedig zuruck und freute sich auf die Umarmung mit seinem ihm vergebenden Vater.

Die Wahrheit erfuhr er sofort, nachdem er die russische Grenze uberschritten hatte. Kosaken kreisten die Kolonne ein und brachten alle nach Twer bei Moskau, wo sie erfuhren, da? der Zar sie in Moskau sprechen wolle.

Vor seiner Fahrt nach Moskau sa? der Zar wieder eine Stunde allein im Bernsteinzimmer und sprach mit sich selbst. Dann holte er Wachter herein, umarmte ihn und sagte mit dumpfer Stimme:»Ein schwerer Gang steht mir bevor. Die Welt wird mich ein Ungeheuer nennen, aber Ru?land und sein Weiterleben zwingen mich dazu. Ich allein bin verantwortlich fur mein Volk!«

Am 3. Februar 1718 fand im gro?en Audienzsaal des Kreml von Moskau in Gegenwart der hochsten Wurdentrager des Reiches der erste Proze? gegen den Zarewitsch und seine Freunde statt. In einem kurzen Vorgesprach sicherte der Zar seinem Sohn gro?e Gnade zu, wenn er die Verrater und Mitverschworenen beim Namen nenne. Sonst — und das war klar gesagt — gab es Folter bis zum Tod.

Alexej, der Schwachling, der Saufer, Spieler, Hurer und Verrater, brach zusammen, warf sich, unter Tranen, dem Zaren zu Fu?en und nannte Namen… viele Namen, gro?e Namen, von Peters Halbschwester, der Zarewna Maria Alexejewna bis zu

Furst Wassilij Dolgorukij, von Furst Juri Trubetzkoj bis zum Fursten von Sibirien, selbst seine eigene Mutter, die fruhere Zarin Jewdokija, verschonte er nicht.

Eine Untersuchung jagte die andere, die Verhafteten fullten die Verliese, gestanden unter grausamen Foltern ihre Kontakte zu Alexej, was dem Zaren genugte, und am 22. Marz sprach man die Urteile.

Der Zar selbst war dabei, als am 26. Marz 1718 auf dem Roten Platz vor der Kremlmauer die Hinrichtungen stattfanden. 300 000 Zuschauer waren gekommen, um diesem grausigen Schauspiel beizuwohnen… dem Enthaupten und Aufhangen, dem Radern und Pfahlen, dem Zu-Tode-Peitschen und dem Tod durch gluhende Eisen. Ein Ab schlachten war's, vor dem die ubrige Welt erschauderte.

Gleich nach den Hinrichtungen fuhr Peter I. nach Petersburg zuruck. Alexej, den Zarewitsch, nahm er mit. Er sa? neben seinem Vater im Schlitten, unterwurfig, dankbar, nicht so bestraft zu werden wie seine Freunde und seine eigene Mutter, die der Zar auspeitschen und in ein fernes Kloster bringen lie?.

«Es ist geschehen!«sagte der Zar, als er zwei Tage nach seinem Strafgericht in Moskau wieder im Bernsteinzimmer sa? und umgeben von dem Sonnenstein seine innere Ruhe wiederzufinden suchte.»Fjodor Fjodorowitsch, nur der Anfang war's. Erinnert Er sich noch an meine Worte? Habe ich Freunde? Mein eigener Sohn gehort an den Galgen. Aber kann ich das? Steck ich ihn in ein einsames Kloster… neue Verrater und der Pobel werden ihn befreien. Nie kommt mein Land zur Ruhe. Gott, was soll ich tun?!«

Am 15. April 1718 traf die Geliebte des Zarewitsch, die angebetete Hure Afrosinja, in Petersburg ein. Voll Ungeduld wartete Alexej darauf, sie in die Arme nehmen zu konnen, aber anstatt sie zu ihm zu bringen, schlo?

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×