seinen Herrscher und Vater ebensosehr als Sohn wie als Untertan Seiner Majestat den Tod verdient…«

Mit betrubtem Herzen und Tranen in den Augen — wie es spater hie? — habe man den Zarewitsch zum Tode verurteilen mussen wegen einer Verschworung, wie es sie ihresgleichen kaum jemals auf der Welt gegeben hat, in Verbindung mit dem Plan zu einem abscheulichen doppelten Vatermord — gegen den Vater seines Landes und seinen leiblichen Vater.

Bei der Verkundung des Urteils fiel der Zarewitsch ohnmachtig um und mu?te weggetragen werden.

Der Zar lie? sich fast zwei Tage Zeit, das Urteil zu unterschreiben. Er schlo? sich wieder in das Bernsteinzimmer ein, wanderte von Wand zu Wand, druckte die hei?e Stirn gegen den kuhlen Sonnenstein, betete und schlug sich selbst mit geballten Fausten an die breite Brust. Tod durch den Henker oder Begnadigung zu einem Monchsleben in Sibirien, das lebenslangliches Begrabensein bedeutete? Was bin ich zuerst: Zar von Ru?land oder Vater eines mi?ratenen Sohnes? Was ist meine Pflicht gegenuber dem Vaterland, Gott und der ubrigen Welt? Wer hilft mir? Mir, dem allmachtigen Zaren, der jetzt allein ist, ganz allein — und weint?

In der Nacht zum 26. Juni stand Wachter wieder vor dem Bernsteinzimmer auf dem Flur und wartete auf den Zaren. Wieder hatte er Licht gesehen, war voll dunkler Ahnungen in das Palais gelaufen und hatte an der Tur des Zimmers geruttelt. Von innen kam keine Antwort, kein Wort, kein Zuruf, nur die stampfenden, drohnenden Schritte horte man, wenn der Zar ruhelos hin und her lief, und eine Art dumpfes Trommeln horte man auch, das sich Wachter nicht erklaren konnte. Es war, wie wenn der Zar sich selbst mit Fausten schlug.

Um vier Uhr morgens offnete der Zar die Tur und trat hinaus. Schrecklich sah er aus, zerstort das Gesicht, bleich, mit zuckendem Mund und starrem Blick. Die Krampfe hatten ihn wieder geschuttelt und ihre Spuren tief in ihm hinterlassen.

«Da ist Er ja schon wieder!«sagte Peter mit muder Stimme.»Werd ich Ihn denn nie los?«

«Nur wenn Sie mich kopfen lassen, Majestat.«

«Vielleicht wird das einmal geschehen. «Der Zar lehnte sich wieder an die Wand des Flures.»Was will Er hier? Ich wei?, ich wei?… Er hat Licht gesehen. Aber nun wei? Er, wer hier ist, und Er kann gehen!«

«Mich treibt die Sorge, Majestat.«

«Sorge um wen? Um mich oder um den Zarewitsch?«

«Um beide, Majestat. Es ist eine Einheit.«

«Wenn Er weiterredet, ist Sein Kopf noch heute ab!«schrie der Zar.»Geh Er!«

«Sei's drum, Majestat. «Wachter holte tief Atem.»Alle kennen das Urteil gegen den Zarewitsch. Alles blickt nach Petersburg. Was tut der Zar?«

«Was er tut?«Peter I. ballte die Fauste.»Allein ist er. Allein mit Gott! Allein mit seinem Gewissen! Allein mit seiner Pflicht! Niemand kann mir raten! Niemand wagt es, ein Wort zu mir zu sagen. Der einsamste Mensch auf dieser Erde bin ich… vor eine Entscheidung gestellt, die mir niemand abnehmen kann, wie sie noch nie einem Menschen gestellt worden ist. Das ist der Zar, Wachte-rowskij: ein Nackter im sibirischen Eissturm.«»Gibt es keinen, der Ihnen einen Pelz umhangt?«»Nein!«

«Darf ich es, Majestat?«

«Nein! Halte Er sich da raus, Fjodor Fjodorowitsch. Ein todliches Mitleid kann das werden. Ich mochte Ihn behalten. Was um mich herumkriecht, dieses Geschmei?, es ekelt mich! Welch ein Tag ist heute! Die Welt und ich werden ihn nie vergessen.«

Um acht Uhr morgens, am 26. Juni 1718, trafen in der Peter-und-Pauls-Festung der Zar, Furst Menschikow, Furst Dolgoru-kij, Admiral Apraxin, Kanzler Golowin, Vizekanzler Schafirow, General Buturlin — sie alle hatten das Urteil unterzeichnet — und einige andere Personen ein, begaben sich nach dem schnellen Verlassen ihrer Kutschen unverzuglich in die dunklen Gange der Bastion Trubezkoj, und alle Turen wurden hinter ihnen verriegelt. Kurz darauf, so berichteten Bauarbeiter, die in der Nahe einen neuen Turm errichteten, gellten durch die vergitterten Fenster grauenvolle Schmerzensschreie, die nur von Alexej Petrowitsch kommen konnten. Aber auch sie verstummten sehr schnell, und dann lag eine bedruckende Ruhe uber der T rubezkoj-Bastei.

Um elf vormittags offneten sich wieder die Tore, der Zar mit seinem Gefolge kam heraus, stieg ohne ein Zeichen von Erregung, Trauer, Entsetzen oder Betroffenheit in seine Kutsche und fuhr davon. Er sah aus wie immer… ein unbezahmbarer Riese in einfacher Handwerkerkleidung, mit kuhlem Blick und dem Gang eines Seemannes.

Zuruckgekehrt ins Winterpalais a? er mit gro?em Appetit zu Mittag, trank hinterher Kwa? und zwei Glaser Anisbranntwein, und auch das Essen selbst war nichts Besonderes: eine Sauerkohlsuppe, kalter Braten mit Gurken und Pilzen, Kohlpiroggen und zum Abschlu? der so geliebte Limburger Kase, dessen Gro?e er jedesmal mit einem Zirkel ma? und sich notierte, weil er den Verdacht hegte, sein Kuchenmeister Veiten nasche heimlich von diesem kostlichen, stinkenden Stuck. An diesem Tag trank er sogar noch nach dem Kwa? und Branntwein zwei Glaser Tokajer, ku?te der Zarin Katharina die Augen und ging in sein Arbeitskabinett. Den ganzen Nachmittag arbeitete er dort, gab Anordnungen fur die am nachsten Tag geplanten Feierlichkeiten zum Jahrestag des glorreichen Sieges von Poltawa, bestimmte das Tedeum, das er wunschte, besprach in gutiger Laune einige politische Dinge und stieg dann hinauf ins Bernsteinzimmer. Keiner hatte ihn bisher e> was gefragt, auch Katharina nicht, die ihn bei Tisch stumm gemustert und in seinem Gesicht nach Antwort gesucht hatte. Wachter war — wie konnte es anders sein — im Bernsteinzimmer und reinigte mit einem feuchten weichen Lederlappen die Falten eines aus Bernstein geschnitzten Kopfes.

«Hinaus mit Ihm!«sagte der Zar dumpf.»Und wage Er nicht, mich zu storen! Keinen will ich sehen… auch Gott nicht…«

Mit einer tiefen Verbeugung und einem sorgenvollen Blick verlie? Wachter das Zimmer.

Um sechs Uhr abends gaben der Festungskommandant und der Arzt den Tod des Zarewitsch Alexej Petrowitsch bekannt. Unerwartet, an einem Schlaganfall, sei er gestorben. Kurz nachdem sein Vater, der Zar, ihn gegen elf Uhr am Vormittag verlassen hatte, sei er in tiefe Ohnmacht gefallen und nicht mehr aus ihr aufgewacht.

Ein Zittern des Grauens lief durch Petersburg und spater durch ganz Ru?land, durch Europa, durch alle Herrscherhauser. Wer glaubte an den Schlaganfall? Was war zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends in der Trubezkoj-Bastei geschehen? Die Eingeweihten schwiegen, das Entsetzen in sich verbergend. Aber bald kamen die Geruchte auf, von denen keiner wu?te, was Wahrheit oder Erfindung war:

Der osterreichische Gesandte Pleyer meldete drei Tage nach dem Tod des Zarewitsch nach Wien, Alexej sei mit einem Schwert oder einer Axt hingerichtet worden, und der Zar selbst habe den todlichen Hieb gegen seinen Sohn gefuhrt.

Der hollandische Gesandte Jakob de By sandte einen Bericht, nach dem der Henker dem Zarewitsch die Adern geoffnet habe und er verblutet sei. In Gegenwart des Zaren.

Eine Kammerfrau Katharinas, die Deutsche Anna Kramer, erzahlte, man habe Alexej auf Befehl des Zaren und in seiner

Gegenwart die Kehle durchgeschnitten. Dann sei eine Frau aus Narwa, die nebenan gewartet habe, hereingeholt worden, und diese habe den abgeschnittenen Kopf kunstvoll wieder angenaht, damit man den Zarewitsch spater mit Prunk im offenen Sarg aufbahren konne. Eine breite, lange Halsbinde wurde jetzt den Schnitt verdecken.

Ein anderes Gerucht wurde verbreitet: Alexej sei von vier Gardeoffizieren mit Kissen erstickt worden. Einer der Offiziere mit Namen Rumjanzew beichtete es spater auf seinem Totenbett — aber wer glaubte ihm?

Und es wurde weiter geratselt. War der Zarewitsch erdrosselt worden? Hatte man ihm Gift gegeben? Hatte sein Vater ihn mit der Knute so lange geschlagen, bis er unter dieser schrecklichen Folter starb? Wie kann man die Schmerzens-schreie kurz nach Eintreffen des Zaren und seines Gefolges in der Peter-und-Pauls-Festung erklaren?

Lebte Alexej Petrowitsch noch, als der Zar um elf Uhr vormittags die Trubezkoj-Bastei verlie??

Wer wagte zu fragen? Wer wollte sich Verfolgungen aussetzen? Wer wollte gehangt werden? Der Zarewitsch war tot — das war das einzige, was man sicher wu?te. Alles andere blieben wilde Vermutungen, die nie bestatigt wurden.

An diesem Abend, dem 26. Juni 1718, blieb Peter I. allein in seinem Bernsteinzimmer, und Wachter stand drau?en und schickte jeden weg, der den Zar sprechen wollte. Selbst Men-schikow und Vizekanzler Schafirow verwehrte er ein Klopfen und Rufen an der Tur, was Menschikow mit dem gefahrlichen Hinweis beantwortete:»Merk Er sich gut: Auch Er ist sterblich, Er, Leiblakei!«

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×