Er stie? sich von der Tur ab, ging hinauf in das Bernsteinzimmer, holte aus dem Werkzeugkasten einen kleinen Hammer, einen dunnen Mei?el, eine Zange und ein festes

Messer, betrachtete den kleinen Engelskopf in der vierten Wandtafel und begann dann, ihn vorsichtig herauszubrechen. Der Zar erhielt den Engel nicht. Am gleichen Tag, am Abend, schrie er wieder vor Schmerzen, beichtete und kommunizierte, streckte die Arme nach Katharina aus, umklammerte ihre Hande und stohnte:»Wie schlecht geht es mir. Wie schlecht. Ein Haus druckt auf meine Brust… Katherinuschka, nimm mir das Haus von der Brust.«

Drei Tage qualte er sich, und kein Arzt konnte mehr helfen. Sie wu?ten nur eins: Die Blase war vom Wundbrand befallen, der Unterbauch war mit Eiter gefullt, der Schlie?muskel der Blase war zu einem steinharten Verschlu? geworden, der keinen Tropfen mehr durchlie?. Der Zar verfaulte von innen, wahrend er noch sprach, in hellen Momenten sogar diktierte, Begnadigungen und Verzeihungen aussprach und mehrmals die Sterbesakramente empfing.

Was wird nach mir aus Ru?land…

Am 26. Januar — in Petersburg waren alle Kirchen geoffnet, Tausende beteten fur den Zaren, die Glocken lauteten und riefen Gott zu Hilfe — warfen die Krampfe den Zaren so hoch, da? er fast aus dem Bett gefallen ware. Katharina und seine Tochter Anna hielten ihn fest, im Palast versammelten sich alle Minister, Senatoren, Generale und dir hochsten Beamten, um die Nachricht des Todes zu erfahren. Menschikow, Tolstoj und Buturlin sa?en in einem Nebenzimmer zusammen und berieten kuhl uber die Nachfolge Peters I. Nicht Peter, der Sohn des hingerichteten Zarewitsch Alexej, sollte es sein, obgleich er in der Rangfolge der neue Zar hatte sein mussen, sondern Katharina, die Witwe. Sie garantierte, da? man auch weiterhin der Gunstling am Hofe blieb.

In der Nacht zum 28. Januar begann der Atem des Zaren schwerer und rochelnd zu werden. Speichel flo? aus seinem Mund, unter der grunen Nachthaube war sein Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt. Der ganze Korper zuckte, aber er wehrte sich, der Zar, der Riese, der Bar. Sein Wille baumte sich auf, er kampfte und kampfte gegen den unbesiegbaren Feind, der Beichtvater Feofan Prokopowitsch schlug das Kreuz und sagte:»Ich hoffe, Gott wird dir alle Sunden vergeben, wegen des Guten, das du fur dein Volk zu tun bemuht warst…«Und Katharina betete und weinte, wahrend Menschikow, Buturlin und Apraxin die neue Thronerklarung fur Katharina L, die Zarin, ausarbeiteten.

Am 28. Januar 1725 baumte sich Peter I. auf, seufzte tief und fiel dann in die Kissen zuruck. Sein verzerrtes Gesicht entspannte sich.

Der Zar war tot… in der sechsten Morgenstunde.

Katharina fiel vor dem Bett auf die Knie, hob die betenden Hande hoch empor und rief so laut, da? es der Himmel horen mu?te:

«O Herr, ich bitte dich, offne dein Paradies, um diese gro?e Seele bei dir aufzunehmen!«

Nicht nur ein Zar, ein Zeitalter war gestorben.

Menschikow verlie? das Zimmer, um den Tod des Unsterblichen den Wartenden zu verkunden.

Er ging an Wachter vorbei, der drau?en vor der Tur stand, wo er seit drei Tagen gestanden hatte, wartend, da? der Zar noch einmal die Kraft erhielt, ihn zu rufen. Auf einem Samtkissen lag der kleine Engelskopf aus Bernstein. Er hielt das Kissen in den Handen, als lage die Krone Ru?lands darauf.

Der Zar ist tot. Es lebe die Zarin Katharina I.!

Mein Gott, was wird nach mir aus Ru?land werden.

Konigsberg 1945

Der 10. Januar 1945 war ein truber, von Nebelschwaden verhangener Wintertag. Der Schneefall hatte aufgehort, der scharfe, eisige Ostwind war zur Ruhe gekommen und hatte Ostpreu?en, Konigsberg und das Frische Haff in eine eisstarrende bizarre Landschaft verwandelt. Auf den Landstra?en nach Westen, nach Elbing, Allenstein, Ortelsburg und Danzig zogen die ersten Trecks von Fluchtlingen zwischen von der Front kommenden und zur Front fahrenden Militarkolonnen in eine unbekannte Zukunft. Nur weg von hier, wohin, das war gleichgultig, nur weg in Sicherheit, ins Uberleben, weg von der Vernichtung. Auf Leiterwagen und Handkarren hatte man verladen, was ihnen das Wichtigste war: Bettzeug und Decken, Topfe und Geschirr, Stuhle und Tische, die Standuhr des Gro?vaters oder ein Teppich, Sacke mit Kohl und Kartoffeln, Holzscheite und Briketts, den alten Herd und Wasche, Kleidung, Schuhe, das Notigste, was man zum Leben braucht oder woran das Herz besonders hing. Und zwischen Kisten und Sacken, Mobeln und Kleinkram hockten die Menschen, eingemummt in Decken, Schals um den Kopf gegen die Kalte, hohlaugig, hungernd und doch voll Hoffnung, den sicheren Westen Deutschlands zu erreichen. Frauen und Kinder, Greise und Sauglinge. Wer kein Fuhrwerk besa? und kein Pferd mehr, ging zu Fu?, schlang sich um den Korper die Seile, mit denen man die Karren zog, selbst in Kinderwagen schoben sie ihre letzte Habe durch das verschneite Land. Tausende, eine endlose, dunkle Menschenschlange, die sich uber die verstopften Stra?en qualte, die Angst im Nacken.

An Ostpreu?ens Grenze stand der Russe. Noch wartend auf den gro?en Tag, an dem die Winteroffensive die deutschen Fronten aufrollen sollte. Von allen Seiten drangen die Armeen der Amerikaner, Englander, Franzosen und Russen nach Deutschland vor. Aus Gro?deutschland war ein Gro?kessel geworden, ein Sack, der von Tag zu Tag enger zusammengeschnurt wurde. Der totale Krieg war von Goebbels proklamiert worden. Alle Manner ab funfzig Jahren, die nicht in kriegswichtigen Betrieben arbeiteten, wurden zum Volkssturm eingezogen, zu einer armseligen Truppe, die einen Wall aus Leibern gegen den Ansturm der feindlichen Divisionen bilden sollte, miserabel bewaffnet, angefeuert mit Parolen, aus denen jeder Denkende heraushoren konnte: Das Ende kommt, das Reich mu? verteidigt werden. Der Krieg fallt in Deutschland ein. Die meisten Stadte lagen nach unfa?baren Luftangriffen und Bombardements in Trummern, in Kellern und Ruinen hauste man, in zerfallenen Hausern oder Bunkern. Und doch… fur die Fluchtenden aus Ostpreu?en war dieser zerbombte Westen die letzte Rettung, eine letzte Moglichkeit, sich zu verkriechen und zu uberleben.

Im Fuhrerhauptquartier stand Hitler wie jeden Tag bei der Besprechung zur Lage an der gro?en Karte auf dem langen Tisch, beugte sich uber sie und betrachtete die neu eingezeichneten Linien des Frontverlaufes. Generalfeld marschall Keitel, Generaloberst Jodl und Generaloberst Heinz Guderian berichteten von den Fronten. Hitler, seit dem Attentat des Grafen von Stauffenberg am 20. Juli 1944 zusammengefallen, korperlich ein Wrack, immer ofter von einem Nervenschutteln befallen, von Tag zu Tag immer weniger ansprechbar, ein Mann am Rande der Selbstauflosung, je naher die Front von allen Seiten nach Deutschland vorruckte, horte wortlos dem Bericht zur Lage zu, den Guderian ihm vortrug.

Es sah trostlos aus. Die Ardennenoffensive des Generalfeldmarschalls von Rundstedt war zum Stehen gekommen, in Ungarn stie?en die Russen vorwarts, in Mittelitalien drangen die Briten vor; seit dem 10. Oktober 1944, nach der Eroberung von Riga durch die sowjetischen Armeen, war die gesamte Heeresgruppe Nord eingekesselt; an Ostpreu?ens Grenze standen im Halbkreis drei russische Fronten bereit zum Av griff; die Bombergeschwader der Englander und Amerikaner flogen fast vollig unbehindert ins Reich und zerstorten systematisch Stadte, Brucken, Eisenbahnlinien und Fabriken. Die Zahl der Bombentoten ging in die Hunderttausende.

Hitler schwieg. Woran dachte er jetzt? An die Fluchtlinge im Schneesturm, an die Ohnmacht, die Armeen der Alliierten aufhalten zu konnen, an das jetzt sinnlose Opfer von Hunderttausenden Soldaten? War er nicht selbst geflohen? Sein geliebtes Fuhrer-Hauptquartier» Wolfsschanze «bei Rastenburg in Ostpreu?en hatte er verlassen mussen, nachdem es unmittelbar von der Roten Armee bedroht war. Jetzt hatte er sein Hauptquartier in Ziegenberg bei Frankfurt aufgeschlagen, horte das Heulen der Sirenen, wenn die alliierten Bombergeschwader Deutschland zerhackten und die Stadte in Flammen untergingen. Woran dachte er?

Guderian erfuhr es sehr schnell.

Nach Abschlu? der Besprechung zur Lage holte Guderian eine Liste aus seiner Aktenmappe und sah Hitler sehr ernst an.

«Mein Fuhrer«, sagte er mit fester Stimme.»Um die zukunftige Lage zu verstehen, ist es notwendig, die neuesten Zahlen der Krafteverhaltnisse zu vergleichen. Ich habe hier den neuesten Stand…«

«Mich interessieren Zahlen nicht!«Hitler warf einen kurzen Blick auf Guderian.»Was soll ich mit Zahlen?«

«Mein Fuhrer, wir mussen entscheiden, an welcher Front wir unsere Reserven einsetzen sollen. Die

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