Die Operation war eine furchterliche Qual. Dr. Horn gelang es nicht, einen Katheter bis zur Blase durchzuschieben, mehrmals versuchte er es, mit dem mageren Ergebnis, da? nur etwas Blut und Eiter herausflossen. Erst bei einem neuerlichen Versuch konnte er die Mundung der Blase in den Harnleiter so weit ausdehnen, da? er ein Glas voll Urin abzog. Ein lacherliches Glas voll…

Der Zar hatte eine Betaubung abgelehnt, er hielt sich statt dessen mit jeder Hand an den Armen von Dr. van Rhijn und Dr. Dupont fest, aber so sehr er sich zwang, die Schmerzen zu ertragen, sie uberschritten die Grenze jeder Selbstbeherrschung, er schrie ab und zu laut auf und umklammerte die Arme der Arzte. Als schlie?lich ein gro?er Blasenstein abging, fiel Dr. van Rhijn fast in Ohnmacht… die Hand des Zaren schien seinen Arm zerquetscht zu haben. Sein Griff war wie eine Stahlzwinge.

Jetzt nun, am 16. Januar 1725, lag Peter I. keuchend vor Schmerzen in seinem Bett, walzte sich hin und her und bi? sich in die geballten Fauste. Er fror, zitterte am ganzen Korper vor Kalte, und obwohl man ihn mit Wolfsfellen und Barenhauten zudeckte, hielt das Frieren an. Er fluchte, verwunschte die

Arzte und die Hoflinge und sogar seine geliebte Katherinusch-ka, seine» kleine Herzensfreundin«, wie er sie zartlich nannte — aber es gab keine Warme mehr fur ihn. Selbst der geflusterte Vorschlag, man moge ihm eine junge hei?e Orientalin als Warmespenderin ins Bett legen, wurde von den Arzten als vollig sinnlos verworfen.

Zum ersten Mal gab Dr. Blumentrost zu, die Krankheit nicht bekampfen zu konnen. Die alte Infektion war wieder aufgeflammt, dazu kamen Harngrie?, eine beginnende Uramie, Storungen des Kreislaufes, vor allem aber war die Entzundung der Blase so schwer, da? Dr. Blumentrost einen Wundbrand voraussah.

Kuriere jagten auf den besten Pferden von Station zu Station nach Berlin, zu Dr. Stahl, und nach Leiden in Holland, zu Dr. Boerhaave, mit einem Schreiben, in dem Dr. Blumentrost in heller Verzweiflung um Hilfe oder auch nur einen Rat bat.

Zu spat, alles zu spat. Noch einmal kam die gro?e Qual uber den Zaren, als am 23. Januar der englische Chirurg Dr. Horn unter Beratung des italienischen Arztes Dr. Lazarotti einen Blaseneinstich vornahm und die Blase entleeren konnte. Ein Zeuge dieser Operation, der franzosische Gesandte Campre-don, der einige Pariser Arzte empfehlen wollte, schrieb in sein Tagebuch:»Man entnahm ihm vier Liter Urin. Er stank entsetzlich und war vermischt mit Gewebeteilen.«

Das Ende?

Nein. Erleichtert von dem Harndruck, a? der Zar einige Loffel Hafergrutze, schlief eine Stunde, wachte dann erfrischt auf und sprach ein paar Worte mit dem Herzog von Holstein.»Sobald ich gesund bin, fahren wir gemeinsam nach Riga«, sagte er mit verhaltener Stimme. Und zu Katharina, die neben seinem Bett sa?, Tag und Nacht, in einem Sessel schlief und Peters Stirn trocknete, sein Gesicht wusch, ihn festhielt, wenn wieder ein Krampf seinen Korper durchschuttelte, die weinte und schluchzte, wenn ihn die Schmerzen hochwarfen, und die mehrmals in Ohnmacht fiel, als die Operationen an dem Zaren vorgenommen wurden, sagte er:

«Kathinka, mein Seelchen, mein Paradies… weine nicht. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Sieh, wie gut es mir wieder geht…«

Entsetzen verbreitete sich im Krankenzimmer. Peter I. richtete sich auf, klammerte sich an Dr. van Rhijn fest und stieg aus dem Bett. Er stand, ein Riese wie immer, auf seinen saulenartigen Beinen, die noch machtiger wirkten durch den Wasserstau, und versuchte einige Schritte. In seinem Unterleib brannte ein Feuer, aber nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

«Zum Bernsteinzimmer«, sagte er.»Ich will — «

«Unmoglich, Majestat. «Die Arzte starrten erbleichend auf den Zaren. Katharina hielt ihn an seinem Nachtrock fest. Die Prinzessinnen Anna und Elisabeth schluchzten laut. Menschikow, der immer anwesend war, lauernd wie ein gejagter Fuchs, jedes Zucken registrierend, jeden weiteren Verfall bemerkend, trat ihm in den Weg.

«Wahnsinn ist das, was Sie tun«, sagte er.»Gehen Sie zuruck ins Bett, Pjotr Alexejewitsch…«

«Wer ist hier der Zar?!«brullte Peter plotzlich mit altgewohnter Stimme.»Wer? Noch bin ich es! Noch lebe ich! Und langer werde ich leben als euch allen lieb ist!«

Er wollte weitergehen, aber er ware gefallen, wenn Dr. van Rhijn und Dr. Blumentrost ihn nicht festgehalten hatten. Der Zar senkte den Kopf.

«Bringt ihn zu mir«, sagte er matt.»Ich will Fjodor Fjodorowitsch sehen. Meinen Bernsteinwachter. Holt ihn und la?t mich mit ihm allein. Allein, sage ich. Kein Medicus, nicht du Halunke, Menschikow, auch Katharina nicht. Allein…«

Der Befehl des Zaren flog von Mund zu Mund, von Lakai zu Lakai, bis hinauf zum Bernsteinzimmer.»Er soll zum Zaren kommen!«sagte ein Diener zu Wachter, der wie immer mit einem Lederlappen die Bernsteintafeln blank putzte.»Sofort!«Als Wachter in das Krankenzimmer trat, von den Anwesenden wie ein seltenes Tier bestaunt, denn nur wenige kannten ihn, den stillen Mann irgendwo im Winterpalast, verlie?en alle den Raum, als letzte Katharina mit einem langen Blick auf den seltsamen Vertrauten ihres Mannes.

Der Zar wartete, bis sich die Tur geschlossen hatte, und winkte dann Wachter zu sich ans Bett. Er sa? auf der Bettkante, hatte die Finger der rechten Hand in die Decken gekrallt und atmete schwer. Die Schmerzen zerstorten ihn, er schien von innen zu verbrennen.

«Nun ist's soweit«, sagte er mit muhsam fester Stimme.»Fjodor Fjodorowitsch, es hei?t Abschied nehmen. Ich wei?, wie es um mich steht, aber ich tausche sie alle. Ihre gierigen Blicke sehe ich: Wer wird der neue Zar?! Wer erbt mein Reich?! Wer bleibt als Gunstling am Zarenhof? Wen ereilt der Bannfluch? Wer wird in Zukunft die Rubel scheffeln? Wer von uns kann das Volk aussaugen? Geschmei? alles, alles Geschmei?! Wachterowskij — was wird nach mir aus Ru?land? Wei? Er darauf eine Antwort? Was wird… das ist meine einzige Sorge, das schreckt mich, nicht der Tod. Wem kann ich noch vertrauen? Menschikow? Er ist der genialste Schuft von allen. Tolstoj? Ein Arschkriecher! Apraxin? Denkt nur an seine Karriere. Golowin? Ein Wolf, der mir die Hand leckt! Ich durfte gar nicht sterben, ich mu?te ewig leben, fur mein Ru?land leben… aber Gott ruft den Menschen fruher oder spater zu sich. Bei mir ist es zu fruh, und kein Bereuen hilft mehr. «Er krallte wieder vor Schmerz die Finger in die Decken, und sein Gesicht schien sich aufzulosen.»Sag Er mir die Wahrheit wie immer, Fjodor Fjodorowitsch: Mu? ich jetzt schon wirklich sterben?«

«Ja, Majestat. Die Kunst der Arzte hat ein Ende. Mein Sohn Julius sagt es auch.«

«Er ist also doch ein Medicus geworden, hinter meinem Rucken?«

«Er hat noch nicht studiert. Er lernt bei Dr. van Rhijn, sieht ihm zu, assistiert ihm… Verzeiht ihm, Majestat.«

Der Zar nickte. Ein Schmerzanfall vernichtete fur Minuten seine Stimme. Dann, nach einem rochelnden Atemholen, sagte er schwach:»Das Bernsteinzimmer sehe ich nie wieder. Mein geliebtes Kabinett, mein Beichtzimmer, der Ort, an dem ich mit meiner Seele sprechen konnte. Nie mehr! Wachterowskij — «»Majestat. «Wachter trat naher und stand jetzt dicht vor dem keuchenden Zaren.

«Wagt Er etwas Ungeheures, wenn Sein Zar es wunscht? Nicht befiehlt… er wunscht es. Beschadigt Er das Bernsteinzimmer?«

«Ich… ich wei? es nicht…«, antwortete Wachter stockend. Der Gedanke, das Bernsteinzimmer zu beschadigen, lag ihm so fern wie die Sterne.

«Ein Stuck will ich haben. Ein kleines Stuck nur. Brech Er mir etwas aus den Wanden… eine kleine Girlande, ein Kopfchen, ein Blatt, eine Blume… irgend etwas. Ich will es auf meine Brust legen, wenn ich sterbe. Nur ein kleines Stuck aus meinem Zimmer… ein kleiner Strahl des Sonnensteins.«

«Ihr Wunsch wird erfullt werden, Majestat«, sagte Wachter mit trockener Kehle.»In der Tafel vier gibt es einen kleinen Engelskopf… ihn breche ich heraus.«

«Ein Engel!«Der Zar lie? sich nach hinten sinken. Wachter sprang hinzu, stutzte ihn, legte ihn ins Bett und breitete die Decken uber ihm aus.»Ein kleiner Engel fliegt mit mir in die Ewigkeit. Fjodor Fjodorowitsch, die Welt wird es nie erfahren, sie wird nur Menschikow, Apraxin, Buturlin, Tolstoj, Schafirow und all die anderen Marionetten kennen… Er aber ist mein wahrer Freund. Gott segne Ihn und Seine Familie…«

Wachter beugte sich uber den Zaren, ku?te seine Hande, sah ihm tief in die graugrunen Augen und erkannte in der Tiefe den Tod.

Als er die Tur offnete, sturzten an ihm vorbei sofort Katharina und Menschikow ins Zimmer. Erst dann folgten die Arzte. Keiner richtete ein Wort an Wachter, der stumm an der Tur stand und sie beobachtete.

Die Wolfe sturzen sich auf ihr Opfer, dachte er. Die Aasfresser formieren sich. Zu lange dauert ihnen das Sterben des Zaren. Er stirbt nur Stuck um Stuck, Stunde um Stunde und lebt euch zu lange. Armer Zar, du hast recht, zu schreien: Was wird aus Ru?land?!

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