man sie sofort in eine Zelle der Peter-und-Pauls-Festung ein. Ihr Gepack wurde durchsucht, und man fand, eingenaht in einen Kleidersack, zwei Briefe, die Alexej von Neapel aus geschrieben hatte: an den russischen Senat und an die Erzbischofe der russischorthodoxen Kirche. Briefe, die eindeutig bewiesen, da? der Zarewitsch nur auf den.Sturz seines Vaters wartete, um sich als neuer Zar kronen zu lassen.

Mit versteinertem Gesicht las Peter diese Schriftstucke. Von neuem zog er sich allein ins Bernsteinzimmer zuruck, las immer wieder die Zeilen seines Sohnes und druckte dann die Stirn hilflos gegen eine der Wandtafeln, als konne ihn der Bernstein aus seinem Millionen Jahre alten Leben einen Rat geben.

Am 14. Juni 1718 eroffnete der Zar im gro?en Senatssaal mit einem Gottesdienst die Gerichtsverhandlung gegen seinen Sohn. 127 Wurdentrager bildeten das weltliche Gericht; drei Metropoliten, funf Bischofe, vier Archimandriten und eine gro?e Zahl anderer hoher Kirchenherren stellten das geistliche Gericht dar. Der Zar selbst fuhrte die Anklage und verhorte den Zarewitsch.

«Behandelt Alexej wie jeden meiner Untertanen!«rief der Zar in den Saal.»Behandelt ihn in der erforderlichen Form und mit der notwendigen Strenge.«

Alle im Saal erstarrten, jeder wu?te, was diese Aufforderung bedeutete: Die Folter! Die Folter fur den Zarewitsch!

Am 19. Juni war die erste Befragung. In einer Kalesche, begleitet von seinem Gunstling Furst Menschikow, fuhr der Zar hinuber zur Peter-und-Pauls-Festung und stieg hinab in die eigens fur den Zarewitsch eingerichtete Folterkammer. An die Wand stellte er sich, gab selbst den Wink, und dann fuhrten die Knechte den Zarewitsch herein, mit entblo?tem Oberkorper, ein langaufgeschossenes bleiches Kerlchen, das beim Anblick der Foltergerate und seines Vaters zu weinen begann. Sofort ergriffen ihn vier geubte Henker, hoben ihn hoch, schnallten ihn an den Wippgalgen, seine Fu?e beruhrten nicht mehr den Boden, an ausgerenkten und verdrehten Armen hing er frei in der Luft. Und dann trat der Henkersknecht heran, in der Hand die Peitsche aus nicht gegerbter, sondern in Milch gekochter Kuhhaut, so hart und ins Fleisch schneidend wie Stahl, sah den Zaren an, und der Zar nickte.

Schon beim ersten Schlag, der die Ruckenhaut tief aufri?, schrie Alexej furchterlich. Beim zweiten Schlag baumte sich der Korper auf, verkrummte sich, beim dritten Schlag hingen die ersten Fleischfetzen vom Rucken.

Ein Wink… die Befragung begann. Alexej, unfahig zu sprechen, schuttelte auf alle Fragen den Kopf. Hatte der Kaiser von Osterreich ihm Truppen angeboten? Sollten die Trappen in Mecklenburg rebellieren? Wollte er an deren Spitze nach Petersburg marschieren und den Zaren sturzen? Wieviel Geld hatte er von Osterreich bekommen?

Der Zarewitsch schwieg.

Funfundzwanzig Knutenschlage prasselten auf ihn nieder, zerfetzten seinen Rucken bis auf die Knochen, das Blut lief in Stromen an ihm herunter, und immer hatte der Zar bei einem fragenden Blick des Henkers dumpf gesagt:»Weitermachen!«Alexej gestand alles, brullte seine Schuld heraus, schluchzte in den Schlagpausen, bettelte um Gnade, und schrie gellend wieder auf, wenn ein neuer Knutenschlag ihn traf.

Nach dem funfundzwanzigsten Schlag trat der Arzt an den Zaren heran und empfahl, die Befragung zu unterbrechen. Dort hing kein denkender Mensch mehr.

«Er sagt nicht alles! Er lugt noch immer!«sagte Peter ernst.»Henker, mach Er weiter…«

Noch einmal klatschten funfzehn Schlage mit der in Milch gekochten Kuhhaut auf den zerfetzten Rucken des Zarewitsch. Die tiefen Wunden bildeten schon eine zusammenhangende Masse heruntergerissenen Fleisches, und jetzt, beim vierzigsten Schlag, brullte Alexej heraus, was Peter erwartet hatte:

«Ja! Ja! Ja! Ich wunschte mir den Tod meines Vaters!«

Der Zar stie? sich von der Mauer ab und verlie? den Folterraum. Der Zarewitsch wurde vom Wippgalgen losgebunden, brach auf dem Boden zusammen und wurde hinausgetragen. Der Arzt folgte ihm, um die Wunden zu versorgen. Er ahnte, da? dies nicht die letzte Befragung gewesen war.

In der Nacht zum 20. Juni sah Wachter von seinem Schlafzimmerfenster aus Licht im Bernsteinzimmer. Sofort zog er sich an und rannte hinuber zum Winterpalais, wo ihn die Wachen ohne Fragen einlie?en. Jeder kannte ihn jetzt und seine

Vollmachten.

Der Zar sa? wieder in seinem Sessel, hatte die Hande gefaltet und starrte, weit zuruckgelehnt, auf die aus Bernstein geschnitzte Maske des sterbenden Kriegers, die Schluter entworfen haben soll. Ein Gesicht, verzerrt im Schmerz und mit aufgerissenem Mund. Die letzte Sekunde vor der Ewigkeit.»Was will Er?«knurrte der Zar.»Hinaus mit Ihm!«

«Ich habe Licht gesehen, Majestat. Meine Pflicht ist es…«»Pflicht! Fjodor Fjodorowitsch, es gibt Pflichten, vor denen man sterben mochte. «Der Zar schlo? die Augen, drehte den Kopf zu Wachter und offnete sie dann wieder. Sein Blick war elend und voll Qual.»Was tate Er, wenn Sein Sohn wunschte, der Vater ware tot?«

«Ich wei? es nicht, Majestat. Traurig wurde ich sein.«»Aber der Wunsch bleibt! Und es werden Mordergesellen gesucht, und Verzeihung wird mit Mord gedankt. Mein Freund, der Zar hat keine andere Wahl… er mu? richten. Richten nach dem Gesetz und vor Gott. Raus! La? Er mich allein! Ich kann jetzt keinen Menschen sehen… auch Ihn nicht.«

Leise verlie? Wachter das Bernsteinzimmer, setzte sich auf einen Hocker in eine Ecke des Flures und wartete. Er wu?te um die Qual des Zaren… auf den Proze? gegen den Zarewitsch starrte alle Welt.

Fast eine Stunde sa? Wachter auf einem Hocker vor der Tur des Bernsteinzimmers, wie ein Hund, der seinen Herrn bewacht. Als Peter I. endlich aus dem Kabinett kam, blieb er vor Wachter stehen. Gerotete Augen hatte der Zar, als habe er lange geweint, und um seinen Mund lag ein Zug gro?ter Resignation.

«Er ist ja noch immer hier!«sagte er mit rauher Stimme. Auch sie hatte gelitten, war fast tonlos vor Trauer und Bedruckung.»Solange jemand im Bernsteinzimmer ist, bin auch ich vorhanden, Majestat.«

«Und wenn ich Ihm befehle: Geh Er weg!?«

«Dann mu? ich Majestat an meinen Schwur in Ihre Hand erinnern: La? Er das Bernsteinzimmer nie allein…«»Ein merkwurdiger Mann ist Er, Fjodor Fjodorowitsch. Hat keine Angst vor dem Zaren! Als einziger von der ganzen Brut, die mich umgibt. Nur winselnde Hunde sehe ich, Tag um Tag, nur schleimige Kummerlinge! Vaterchen, sagen sie zu mir… und denken dabei: Wann stirbt er endlich?! Warum uberlebt er alle seine Krankheiten? Warum steht er immer wieder auf von seinem Bett, starker als vorher? Auch der Zarewitsch denkt so, Wachterowskij! Den Tod seines Vaters wunscht er. Dem osterreichischen Kaiser hatte er Geld bezahlt, wenn dieser ihm eine Armee gegeben hatte, mich zu vernichten! Mein eigener Sohn ist ein Lump, ein Verrater, ein Morder im Geiste, ein Zerstorer Ru?lands. Mein Sohn, der Saufer und Hurer, der Knecht seiner mongolischen Dirne Afrosinja, der von Kriechern umschwanzelte Schwachling… er wollte Zar von Ru?land werden! Was ware aus meinem schonen, reichen, flei?igen Land geworden? Fjodor Fjodorowitsch, wie wurde Er uber einen solchen Sohn urteilen?«

«Mit Gnade, Majestat. Als Monch in einem einsamen Kloster wurde ich ihn bu?en lassen. Ihn in die Vergessenheit versenken.«

«Er denkt wie die Zarin. «Peter lehnte sich an die Wand und starrte blicklos in die weite Ferne.»Gnade! Kennt man Gnade mir gegenuber? Ich wei? noch nicht, was ich tue. Geh Er zu seiner Frau, Wachterowskij. Ich tu das gleiche. Und denke Er nicht, sein Zar sei ein Teufel…«

Am 24. Juni 1718, an einem warmen Abend, trat das Gericht der 127 Wurdentrager des ganzen Reiches zum letzten Mal zusammen, horte sich die Gestandnisse des Zarewitsch an und las die Zeilen, die Alexej unter gro?ten Qualen, ein Wrack nach den Knutenschlagen, selbst geschrieben hatte, und die endeten mit den Worten:»… Ich hatte an nichts gespart, um meinen Willen durchzusetzen.. «Das hie?: den Tod des Zaren.

Nach kurzer Beratung, wahrend der Zar die Richter mit bosem Blick anstarrte, fallten sie das Urteil, das man von ihnen erwartete, einstimmig, ohne den geringsten Versuch, einen mildernden Umstand zu suchen im Wesen und in den

Ausschweifungen des Zarewitsch. Nicht einer wagte es, sich dem stillen Wunsch des Zaren zu widersetzen. Das Urteil lautete:

24. Juni 1718. Wir, die Unterzeichneten, Minister, Senatoren, Funktionare, Offiziere und Zivilpersonen, versammelt im Saal des Senats von St. Petersburg, haben nach reiflicherUberlegung und inspiriert durch unseren christlichen Glauben kraft der heiligen Gebote des Alten und Neuen Testaments, der heiligen Briefe der Evangelisten und der Apostel, derRegeln und Satzungen derKirchenvaterund Lehrer, des Rechts der romischen und griechischen Kaiser und jenes der anderen christlichen Herrscher wie auch kraft des russischen Rechts einstimmig und ohne Widerrede entschieden, da? der Zarewitsch Alexej fur seine Schuld und seinen Aufruhrgegen

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