Ardennenoffensive hat uns viel Menschen und Material gekostet, die Munition wird knapp, aus Treibstoffmangel liegen viele Panzer still, der Nachschub kann nicht mehr nach vorn wegen der Luftangriffe. Wir sollten genau uberlegen — «

«Wir?!«unterbrach ihn Hitler. Seine Stimme war lauter geworden, schriller, hysterischer.»Wir? Wer ist wir?! Sie, Guderian?!«

Guderian blieb ruhig.»Nach den neuesten Berichten ist es ein Fehler, Truppen aus dem Osten abzuziehen und an die Westfront zu werfen.«

«Ein Fehler?!«Hitlers Stimme schwoll noch mehr an.»Sie lasten mir einen Fehler an?! Keitel, horen Sie das?!«Und dann war er da, der Tobsuchtsanfall, den alle furchteten und gegen den es keinen Widerstand mehr gab.»Sie brauchen mich nicht zu belehren, Guderian!«schrie Hitler mit sich uberschlagender Stimme.»Ich fuhre seit funf Jahren die deutschen

Heere im Felde und habe in dieser Zeit soviel praktische Erfahrungen gesammelt, wie die Herren vom Generalstab sie nie sammeln konnen! Ich bin besser im Bilde als Sie!«

Der ehemalige Gefreite hatte gebrullt, die Generale senkten die Kopfe. Nur Guderian lie? sich nicht beeindrucken. Er wartete ab, bis Hitler Luft holen mu?te, und las dann aus seinem Papier ungeruhrt vor:

«Von der Abwehr, Abteilung >Fremde Heere Ost<, ist gemeldet worden, da? die Russen fur Mitte Januar eine Gro?offensive vorbereiten mit drei Sto?richtungen auf Ostpreu?en, Weichsel, Ukraine. Also die gesamte Front unserer Heeresgruppen Mitte und A. Die russische Uberlegenheit betragt bei der Infanterie das elffache unserer Truppen, das siebenfache bei den Panzern, das zwanzigfache bei der Artillerie…«Guderian machte eine winzige Pause, weil es ihm guttat, diesen Satz zu sagen…»und die Uberlegenheit der sowjetischen Luftwaffe zweifelt niemand mehr an!«Das war ein Fu?tritt gegen Reichsmarschall Goring, aber Goring war bei dieser Besprechung nicht zugegen.»In Zahlen, mein Fuhrer, sieht die Lage folgenderma?en aus: An der 1200 Kilometer langen Ostfront von der Ostsee bis zum Plattensee in Ungarn haben wir zur Verfugung: 145 Divisionen, Kampfgruppen und Brigaden, hinzu kommen 16 schnelle Verbande, 12 Panzerdivisionen mit 318 Panzern, 616 Sturmgeschutzen und 793 Pak. Im Gebiet der Heeresgruppe A meldet Generaloberst Harpe, da? er seinen Frontabschnitt von 700 Kilometern nur mit 137 Infanteristen pro Kilometer halten mu?. Die Rote Armee kann pro Frontkilometer aber rund 1500 Infanteristen einsetzen. Die Reserve von Generaloberst Harpe besteht nur aus vier Panzerdivisionen, einer Panzergrenadierdivision und einer gepanzerten Kampfgruppe in Brigadestarke. Sie ist der Rest der aufgeriebenen 10. Panzerdivision.«

Guderian schwieg und sah Hitler an. Das Gesicht des Fuhrers war regungslos, starr, maskenhaft. Auf beide Hande gestutzt, starrte er auf die Karte vor sich, als habe er nichts gehort, als sei er mit seinen Gedanken gar nicht mehr im Raum. Er blieb stumm und unbeweglich. Guderian setzte zum letzten Schlag an.

«Mein Fuhrer, die Abwehr kann verbindlich mitteilen: Unseren schwachen Verbanden stehen auf Seiten der sowjetischen Westfront gegenuber: 55 einsatzbereite Armeen, sechs Panzerarmeen, 35 Panzer- und mechanisierte Korps, zusammen 6 289 000 Soldaten! Sechs Millionen, mein Fuhrer! Diesen sowjetischen Verbanden stehen zur Verfugung: 115 100 Geschutze, 15 100 Panzer und Selbstfahrlafetten, 158 150 Kraftfahrzeuge. Die Zahl der Raketenwerfer >Katjuscha<, von uns >Stalinorgeln< genannt, ist dabei nicht erfa?t…«

Der Name Stalin schien Hitler aus seiner Starrheit aufzurei?en. Sein Kopf zuckte nach hinten, die Hande schnellten zur Brust empor und ballten sich.»Zahlen!«brullte er.»Zahlen! Nichts als Zahlen. Der deutsche Soldat ist zehnmal mehr wert als ein Russe! Wir haben unsere >Tiger<, >Panther< und >Konigstiger<, wir haben das neue Sturmgewehr 44, das beste Maschinengewehr der Welt — das MG 42 —, wir haben unsere Sturmgeschutze und wir haben den Heldenmut des deutschen Soldaten, der wei?, da? er sein Vaterland verteidigen mu?, seine Frauen und Kinder, Mutter und Vater und die Zukunft des Reiches! Was sind dagegen Zahlen?! Wo haben Sie diese Zahlen uberhaupt her, Guderian?!«

«Von der >Abteilung Fremde Heere Ost< der Abwehr, mein Fuhrer. Die Zusammenstellung hat General Gehlen besorgt!«»Gehlen! Gehlen! Immer dieser Schwarzseher! Dieser Jongleur mit Utopien! Ich will Ihnen sagen, was ich von diesen Zahlen halte: Das ist der gro?te Bluff seit Dschingis-Khan! Wie kann man einen solchen Blodsinn ausgraben? Ihn fur wahr nehmen?! Und Gehlen fallt darauf herein! Ich nicht, Guderian, ich nicht! Aber sprechen Sie es aus: Was folgern Sie daraus?!«

«Die Raumung Kurlands und die Offnung des Kessels um die Heeresgruppe Nord, Schaffung von Abwehrschwerpunkten im Raume Litzmannstadt und Hohensalza, Verstarkung der Ostfront von Ostpreu?en bis zur Ukraine durch Verlegung von Verbanden aus Norwegen und der Westfront und Zurucknahme des Frontbogens zwischen Radom und Kielce. Eine sowjetische Gro?offensive zielt auf eine Zangenbewegung ab, die ganz Ostpreu?en, Polen und Pommern einkreisen soll.«

«Sagt Gehlen?!«schrie Hitler.

«Sagt uns die Lage, mein Fuhrer.«

«Nein! Nein! Nein!«Hitler stampfte mit den Stiefeln auf, ein wildes Zucken lief uber sein Gesicht, ein erschreckender Anblick, aber die Generale hatten sich schon daran gewohnt. Nur Keitel sah Guderian bose an.»Sie alle erkennen nicht die Wahrheit! Die Ostfront steht! Im Westen brauchen wir einen Riegel! Im Westen! Nicht ein Soldat wird aus der Westfront abgezogen! Bin ich denn der einzige, der die Lage richtig uberblickt?!«

«Wie Sie befehlen, mein Fuhrer. «Guderian packte seine Unterlagen in die Ledermappe, gru?te mit dem Hitler-Gru? und verlie? das Zimmer. Er war der einzige Generalstabschef des Heeres, der es bisher gewagt hatte, Hitler die Wahrheit zu sagen.

Der Wehrmachtsbericht an diesem 10. Januar 1945 lautete lapidar:

«Von der ubrigen Ostfront werden keine Kampfe von Bedeutung gemeldet.«

So war die Lage, als Jana Petrowna an ihrem freien Abend das Stadtische Krankenhaus verlie?, um Michael Wachter zu besuchen. Zu Oberschwester Wilhelmi sagte sie, da? sie sich noch einmal den neuen Veit-Harlan-Film Kolberg anschauen wollte mit dem unvergleichlichen Horst Caspar als Gneisenau und dem Schauspielerheros Heinrich George.

Wachter wohnte jetzt in einem Kellergewolbe des langgestreckten Nordflugels des Konigsberger Schlosses neben den Kellern der Schlo?gaststatte» Blutgericht«, ein in ganz Europa beruhmtes Lokal, das der Weingro?handler David Schindelmei?er gepachtet und umgebaut hatte. Fruher waren die Keller Gefangnis, Gericht, Folterkammer und Hinrichtungsstatte der Ordensritter gewesen, woran der Name» Blutgericht «erinnerte. Unter Schindelmei?ers Hand wurden sie zur bevorzugten Gaststatte des ostpreu?ischen Landadels, die Junker hatten hier ihre Stammzimmer, und aus allen Landern kamen die Reisenden herbei, um mit einem leisen Grauen im Nacken in Gewolben zu essen und zu trinken, wo einst die Gefolterten schrieen, wahrend ihnen auf den Streckbanken die Glieder ausgerissen wurden. Auch Gauleiter Koch sa? gern im» Blutgericht«, trank einen schweren Rotwein und gab seine bombastischen Satze von sich.

Das Schlo? von Konigsberg… es gab es nicht mehr.

Es begann damit, da? im Fruhjahr 1944 in der zweiten Etage ein Brand ausbrach. Dort hatte Koch zusammen mit dem Generalfeldmarschall von Kuchler eine Ausstellung eroffnet, die eine einzige antisowjetische Hetze war. Das Bild des slawischen» Untermenschen «sollte sich so in den Kopfen der Deutschen festsetzen. Aber obwohl das Schlo? Tag und Nacht von Soldaten bewacht wurde und es sogar eine Brandwache gab, die innerhalb des Schlosses alle Raume kontrollierte, gelang es unbekannten Nazi-Gegnern, diese Ausstellung kurz nach ihrer Eroffnung in Flammen aufgehen zu lassen.

Koch tobte, sorgte dafur, da? die Wehrmachtswache sofort an die Front verlegt wurde, und rief dann Museumsdirektor Dr. Findling, Michael Wachter und den Stadtkommandanten zu sich.

«Es ist eine Sauerei!«schrie Koch.»Unter meinen Augen, im bewachten Schlo?, tummeln sich Terroristen! Aber das schwore ich jetzt: Es werden andere Saiten aufgezogen! Hier wird nach meiner Melodie getanzt!«

Nach einer Stunde Beschimpfung verlie? der Stadtkommandant bedruckt das Amtszimmer des Gauleiters. Zuruck blieben Dr. Findling und Wachter; sie warteten, bis Koch seinen wildesten Zorn mit einem tiefen Schluck Kognak gema?igt hatte.

Das Feuer, im zweiten Stock gelegt, hatte die daruber liegende Gemaldesammlung und das Bernsteinzimmer nicht gefahrdet. Als Koch es sofort nach der Loschung des Brandes mit Findling und Wachter besichtigte, lag nur ein wei?er Belag uber den Wandtafeln. Wachter, der zur Zeit des Feuers wie immer im Bernsteinzimmer gesessen hatte, hustete noch von dem Qualm, der in das Zimmer gedrungen war.

«Man kann es leicht abwischen, Gauleiter«, sagte er und rieb mit dem Armel uber die Mosaike.»Niederschlag des Rauches ist es. Welch ein Gluck haben wir gehabt.«

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×