«Das Bernsteinzimmer ist ein Teil meiner Seele, Gauleiter. «Findling wandte sich zu Wachter um. Polnische Arbeiter schleppten gerade die erste Kiste aus dem Keller nach oben in den Schlo?hof, begleitet von Wachters Rufen:»Aufpassen! Hoher halten! Mehr nach links, ihr Kerle! Links…«

«Was soll denn das?«fragte Koch laut.

«Ich lasse die Kisten in den Nordflugel bringen, Gauleiter. Dort sind sie sicherer. Die Keller des Sudflugels sind zwar tief genug, aber die Gewolbe im Nordflugel sind starker. Die Keller neben dem >Blutgericht< sind die sichersten im ganzen Schlo?. Hier kommt die starkste Bombe oder Luftmine nicht durch. Hier kann es keinen Brand geben.«

«Tun Sie, was Sie fur richtig halten, Findling. «Koch blickte auf die erste Kiste, die jetzt auf dem trummerubersaten Schlo?hof stand.»Ich vertraue Ihnen einen der gro?ten Kunstschatze der Welt an. Nach dem Endsieg werde ich Sie dem Fuhrer vorstellen… er wird Ihnen sehr dankbar sein.«

Koch gru?te, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder zuruck in die brennende Stadt. In das Fuhrerhauptquartier schickte er die Meldung:»Der Einfachheit halber bitte ich Sie, dem Fuhrer und Reichsleiter Bormann mitzuteilen, da? das Bernsteinzimmer unversehrt geblieben ist.«

Es war selbstverstandlich, da? Wachter nach dem Transport des Bernsteinzimmers in die Gewolbe des Nordflugels einen Keller weiter als neue Wohnung bezog. Seine bisherige Wohnung war bis auf die Grundmauern zerstort worden, nichts fand er von ihr wieder als eine kleine, aus Messing gehammerte, dreiteilige Reise-Ikone, die Zar Peter. 1720 seinem heimlichen Freund Friedrich Theodor Wachter geschenkt hatte. Seitdem war sie von Generation zu Generation vererbt worden, hatte in der» schonen Ecke «auf einem Holzbord gestanden, wo sonst das Kruzifix hing, und Julius Wachter, der Sohn Friedrichs, der Medicus und Bernsteinzimmerverwalter unter den drei Zarinnen Anna, Elisabeth und Katharina EL, hatte auf der Ruckseite eingravieren lassen:»Moge der Segen uns alle erleuchten und beschutzen, solange es Tag und Nacht wird auf dieser Erde. Petersburg, den 20. Mai 1766, unter der Gute der gro?en Katharina.«

Der Segen war geblieben… Wachter fand die Ikone unter den Trummern seines Kleiderschrankes, geschutzt von den Fetzen eines Anzuges, als habe eine gottliche Hand sie unter den Stoff gesteckt.

Die Kellerwohnung war bombensicher, aber kalt. Die dicken Mauern atmeten noch immer den Moder der Jahrhunderte aus. Drei Ofen lie? sich Wachter bringen, ein breites Bett mit dicken Daunendecken, einen Tisch, vier Stuhle, einen Waschtisch, einen Schrank, einen Spiegel, einen Kohleherd, fur dessen Abzugsrohr vier Tage lang ein Loch in das Gemauer geschlagen werden mu?te, ein paar Topfe, Geschirr und Bestecke, einige Glaser, einen Teppich aus Kokosfasern, eine Lampe fur die Decke und zwei fur den Tisch. Das war alles, was man ihm aus dem Versorgungslager gab, und auch nur, weil er ein Schreiben des Gauleiters vorwies:»… dem Michael Wachter ist jede Hilfe zu gewahren…«

Ein Feiertag war's, als polnische Arbeiter auf einem Handwagen ein richtiges Sofa brachten, ein Sofa mit grunem Pluschbezug und geschnitzten Lehnen, wie es millionenfach in deutschen Zimmern stand. Es war ein Geschenk von Kochs Intimus Bruno Wellenschlag, der nun, zum Gauhauptamtsleiter befordert, verantwortlich war fur die Zuteilung an Mobiliar fur ausgebombte Volksgenossen. Und auch zwei Bilder schickte Wellenschlag neben dem Sofa zur Verschonerung der Kellerwohnung mit. Das beruhmte Hitlerbild, das den Fuhrer in Uniform und Wettermantel zeigte, den Kragen hochgeschlagen, den festen Blick in die Ferne, in die Zukunft gerichtet, und eine Reproduktion des Gemaldes von Menzel: Das Flotenkonzert von Sanssouci.

Sans souci… ohne Sorgen. Welch bittere Ironie!

Wohin mit Hitler, fragte sich Wachter, als er das gro?e Fuhrerbild vor sich stehen hatte. Dort an die Wand? Ihn immer ansehen mussen, Tag und Nacht, bei jeder Bewegung, bei jedem Tun? Es beherrschte das Zimmer. Wohin mit ihm?

Den Menzel hing er uber dem Sofa auf. Den Fuhrer nagelte er drau?en an seine Tur. Als Dr. Findling ihn das erste Mal im Keller besuchte und sarkastisch sagte:»Ist hier das Fuhrerhauptquartier?«, antwortete Wachter:»Es ist mir eine Freude, ihn von hinten zu sehen. Die anderen sollen denken, ich folge ihm. Jedem das Seine…«

An diesem 10. Januar 1945 nun besuchte Jana Petrowna ihr» Vaterchen«.

Glucklich war sie, frohlich, himmelhochjauchzend, die Welt umarmend, sturzte fast in den Kellerraum hinein, fiel Wachter um den Hals, ku?te ihn und drehte sich mit ihm im Kreise. Den ganzen Tag hatte sie im Krankenhaus gearbeitet, Listen und Berichte geschrieben, Formulare ausgefullt und Oberschwester Frieda Wilhelmi auf dem Kontrollgang durch die Stationen begleitet. Die Schreibmaschine beherrschte sie jetzt vollkommen, schrieb blind und schnell, wie ein Maschinengewehr ratterte es, wenn sie Briefe oder Mitteilungen tippte, und Frieda, der Fleischturm mit dem menschlichen Gesicht, gewohnte sich an ihre Mutterrolle so sehr, da? sie Jana wie eine Tochter liebte. Alle Mutterliebe, die sie nie hatte geben konnen, schuttete sie uber Jana aus. Mit einem Donnerschlag hatte sie dafur gesorgt, da? der flotte Dr. Hans Phillip, nachdem er Jana in einer Abstellkammer bedrangt und ihr das Kleid zerrissen hatte, von Konigsberg nach Elbing versetzt wurde. Nach der Drohung, alles hinzuschmei?en und mit ihrem» Tochterchen «nach Berlin zu ziehen, war der Krankenhausleitung gar nichts anderes ubriggeblieben. Das war 1943 gewesen, und seitdem gab es niemanden mehr, der Jana Petrownas Gegenwart als ungewohnlich empfand. Auch der Personalchef schwieg… sie war die einzige Schwester ohne Papiere. Eigentlich ein Nichts, ein Phantom, das auf der Lohnliste stand.

Seit 1943 hatte Jana eine Freundin, die Sylvie Aarenlund hie? und in Schweden geboren war. Sie studierte in Uppsala Kunstgeschichte, interessierte sich vor allem fur ostasiatische Kunst und war 1943, als Burgerin eines neutralen Landes, nach Konigsberg gekommen, um sich an der Universitat als Gasthorerin weiterzubilden.

Zum ersten Mal trafen sich Jana und Sylvie im Schlo?, in der Gemaldegalerie und dann im Bernsteinzimmer, das Dr. Findling damals zur Besichtigung fur alle freigegeben hatte. Jana fiel auf, da? das blonde Madchen nicht wie andere Besucher einen Rundgang an den Bernsteinwanden entlang machte, sondern oft stehenblieb, einzelne Mosaike betrachtete und sich dann sogar auf einen der Stuhle setzte, die zum Ausruhen im Zimmer standen. Wachter, der eine Gruppe Schuler mit ihrem Lehrer herumfuhrte und die Geschichte des Bernsteinzimmers erzahlte, beachtete das Madchen nicht. Er wunderte sich nur bei einem schnellen Seitenblick, da? Jana, die ihn an diesem Nachmittag besuchte, mit der jungen Besucherin sprach.

«Das Zimmer interessiert Sie?«hatte Jana das Madchen angesprochen. Und in akzentfreiem Deutsch hatte Sylvie geantwortet:

«Es ergreift mich. Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin nicht fasziniert von diesem einmaligen Kunstwerk… das ware zu wenig. Es… es dringt mir ins Herz…«

«Mir geht es genauso. Manchmal bin ich wie betaubt von soviel Schonheit.«

«Sie sind Krankenschwester, wie ich an Ihrer Tracht sehe.«»Ja. Hier im Krankenhaus.«

«Stammen Sie aus dem Baltikum? Sie sprechen ein hartes Deutsch.«

«Ich bin in Masuren geboren. «Die alte Luge, die ein gutes Schutzschild war.»In einem kleinen Dorf bei Lyck.«

So begann eine Freundschaft. Sylvie und Jana fanden sich sofort sympathisch, verabredeten sich zu einem Kinobesuch, und — als sei sie wirklich eine brave Tochter — nahm Jana die neue Freundin eines Tages auch mit ins Krankenhaus und stellte sie Frieda Wilhelmi vor.

«Sie ist ein nettes Madchen«, sagte Frieda am Abend, als sie wie immer zusammen am Tisch sa?en und a?en, was ihnen vom Arztkasino gebracht worden war.»Es freut mich, da? du endlich eine Freundin hast und nicht immer allein ausgehst oder hier herumsitzt. Das hei?t nicht — «Frieda hob den Zeigefinger, — »da? ihr nun zu zweit herumflitzt und den Mannern die Kopfe verdreht. Ich passe weiter auf dich auf, Tochter.«

Es wurden schone Wochen. Im Sommer fuhren sie hinaus zur Nehrung und badeten in der Ostsee, mieteten sich ein Segelboot und segelten im Haff, und es zeigte sich, da? Sylvie eine erfahrene Seglerin war und jede Windsituation meisterte. Im Winter liefen sie Schlittschuh im Eisstadion, auf dem gefrorenen Haff oder am Ufer der Pregel, tranken Gluhweinersatz, teilten die mitgenommenen Butterbrote miteinander, wobei Sylvies Schnitten immer besser belegt waren, da sie aus Schweden Fre?pakete erhielt… wie Schwestern wuchsen sie zusammen, und es gab nichts, was zwischen ihnen ein Geheimnis war.

Das anderte sich im Sommer 1944.

Jana, die von Sylvie einen Schlussel zu deren kleiner Wohnung in einem Vorort von Konigsberg erhalten hatte, kam an diesem Abend unverhofft zu Besuch. Sie hatte von Frieda unerwartet frei bekommen, war mit der Stra?enbahn hinausgefahren, schlo? leise die Wohnungstur auf, um Sylvie zu uberraschen, und stand plotzlich im Zimmer.

Von einer Sekunde zur anderen wie versteinert, blieb Jana in der Tur stehen. Sylvie sa? in einem Sessel, tief uber einen schmalen Kasten auf ihrem Scho? gebeugt. Ein Kabel verband den schwarzen Kasten, an dem

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