geworfen, vor seinen Satrapen, hielt eine seiner von Fuhrerverehrung triefenden Reden und schrie am Schlu?:

«Konigsberg bleibt deutsch! Ostpreu?en wird nicht geraumt! Der Kampf bis zum letzten Mann ist unsere Pflicht! Es lebe unser Fuhrer Adolf Hitler. Sieg heil!«

Die Anwesenden streckten den rechten Arm empor und brullten mit. Sieg heil! Sieg heil! Sieg heil!

Auch Wachter hob den Arm und rief mit. Verzeiht mir alle, dachte er dabei. Verurteilt mich nachher nicht, ich tu's fur mein Bernsteinzimmer. Der Sieg wird kommen. Er steht schon vor der Tur und holt nur noch tief Atem.

Auf Konigsbergs Stra?en, an allen freien Wanden, an Ruinenmauern, an Plakatwanden und den Aufbauten der Lastwagen, auf Transparenten und in allen Zeitungen schrien die neuen Parolen auf die Bevolkerung herab. Parolen, die mehr aussagten als jeder Wehrmachtsbericht, jeder Artikel von Goebbels in der Zeitschrift Das Reich, jeder Kommentar im Reichsrundfunk. Aus diesen Parolen schrie der Untergang, den man verleugnen wollte, und die Machtigen merkten es nicht.

Der Fuhrer erwartet Dein Opfer fur Wehrmacht und Volkssturm

Damit Dein Stolz, Dein Volkssturmmann, in Uniform sich zeigen kann, raum Du jetzt Schrank und Truhe leer und bring uns bitte alles her!

Auf zum heiligen Volkskrieg

fur die deutsche Heimat und unsere Zukunft.

Unser unbeugsamer Wille: niemals Sklaven des anglo-amerikanischen Kapitalismus, niemals als bolschewistischer Zwangsarbeiter nach Sibirien!

Hitler befiehl… wir folgen Dir!

Die Menschen rannten achtlos an diesen Spruchen vorbei. Die Furcht um ihr nacktes Leben zerri? ihre Gesichter. Gab es noch ein Entrinnen? Was tat der Russe, wenn er Konigsberg erobert hatte? Schlachtete er alles ab, wie die Propaganda behauptete? Selbst Dr. Findling stellte sich diese Frage. Seit dem 3. Januar lebte er allein in einem Keller des» Blutgerichts«; er hatte durch seine Beziehungen erreicht, da? seine Frau mit dem Schiff von Konigsberg nach Danzig ausreisen konnte, und hatte dann beim Abschied zu ihr gesagt:

«Martha, weine nicht, ich komme nach, ich versprech es dir. Fahr von Danzig nach Berlin und warte dort auf mich. Und wenn es in Berlin zu unsicher wird, fahr zu deiner Cousine Luise nach Hannover. Irgendwo sehen wir uns wieder, und irgendwie komme auch ich hier heraus, wenn ich wei?, was mit dem Bernsteinzimmer wird.«

«Bernsteinzimmer! Bernsteinzimmer! Immer Bernsteinzimmer! Das verfluchte Bernsteinzimmer!«Sie hatte sich an ihn geklammert, weinend, zitternd, mit beiden Handen seinen Kopf umfassend.»Komm mit, Wilhelm. Komm mit, ich flehe dich an. Willst du dein Leben opfern fur das verfluchte Zimmer?«

«Es ist kein Opfer, Martha, es ist ganz einfach Pflichterfullung.«

«Da? du stirbst wegen ein paar Bernsteinwanden? Das ist doch Wahnsinn, Wilhelm! Ihr habt das Bernsteinzimmer den Russen gestohlen… la? sie es doch zuruckerobern.«

«Das verstehst du nicht, Martha. «Er hatte sie bis zum Schiff gebracht und winkte ihr nach, als sie die Gangway hinaufging an Bord. Es war ein ehemaliger Ausflugsdampfer. Frohliche Fahrt entlang der Ostseekuste. Mit drei Tagen Badeaufenthalt auf Usedom. Im herrlichen Seebad Heringsdorf oder Mistroy. Kraft durch Freude… Jetzt war das Schiff grau gestrichen und sah aus wie ein Hilfskreuzer.

«Wir sehen uns wieder, Liebes…«hatte Findling leise gesagt, als er sie an der Reling stehen sah, weinend, so zart und klein, wie er sie bisher nie gesehen hatte.»Gute Fahrt, mein Liebling… du bist in Sicherheit.«

Dr. Findling hatte nie erfahren, da? zwei Tage spater nordlich von Rugenwalde ein sowjetisches U-Boot mit zwei Torpedos das graue Schiff versenkte. Es wurde niemand gerettet.

Heute nun, am 10. Januar 1945, jauchzte und lachte, weinte und schluchzte Jana Petrowna am Hals von Vaterchen Michail, schwenkte ihn im Kreis herum und rief dabei immer wieder, obgleich ihr bei jedem Wort die Stimme brach:

«Er lebt! Er lebt! Er lebt! Vaterchen, Nikolaj lebt. Nachricht hat er gegeben! Gru?en la?t er uns! Gru?en! In Leningrad ist er noch. In der Eremitage. Er lebt… er lebt… er lebt…«Dann sackte sie zusammen, Wachter trug sie auf das alte Pluschsofa und legte sie hin.

Nikolaj lebt. Gut geht es ihm. Gott, o Gott, wie kann ich Dir danken?! Mein Sohnchen habe ich wieder. Auf die Knie falle ich vor Dir, Allmachtiger, wie hast Du uns gesegnet…

Und er kniete wirklich nieder vor der alten Reise-Ikone aus Messing, vor dem dunn flackernden Flammchen des Hinden-burglichts, faltete die Hande und betete und war erlost und glucklich, da? die Tranen uber sein Gesicht liefen und sein Herz vor Freude zu bluten schien.

Nikolaj, mein Sohnchen, lebt.

O Herr, wieviel Gnade schenkst Du uns.

Tagesbefehl des Marschalls Tschernjakowskij,

Befehlshaber der 3. Wei?russischen Front, vom 12. Januar 1945

Zweitausend Kilometer sind wir marschiert und haben die Vernichtung all dessen gesehen, was wir in zwanzig Jahren aufgebaut haben. Nun stehen wirvorderHohle, aus der heraus die faschistischen Angreifer uns uberfallen haben. Wir bleiben erst stehen, nachdem wir sie gesaubert haben. Gnade gibt es nicht — fur niemanden, wie es auch keine Gnade fur uns gegeben hat. Es ist unnotig, von Soldaten der Roten Armee zu fordern, da? Gnade geubt wird. Sie lodern vor Ha? und vor Rachsucht. Das Land der Faschisten mu? zur Wuste werden, wie auch unser Land, das sie verwustet haben. Die Faschisten mussen sterben, wie auch unsere Soldaten gestorben sind.

Aufruf des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg als Flugblatt unter russische Soldaten verteilt.

«Totet! Totet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft fur immer das faschistische Tier in seiner Hohle. Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtma?ige Beute!«

In der Gauleitung rief Gauleiter Koch erneut seine Getreuen, so nannte er sie, zusammen. Mit zitternden Handen hielt er ein Papier vor sich hin, und als er sprach, war seine Stimme rauh vor Erregung.

«General Gehlen von >Fremde Heere Ost< der Abwehr hat uns soeben einen Aufruf des Judenlummels Ilja Ehrenburg durchgegeben. Alle deutschen Wehrmachtsverbande werden daruber unterrichtet. Der Fuhrer hat befohlen, da? jeder diese widerliche Schmiererei kennt, um endlich klar zu sehen, was uns erwartet, wenn wir uns nicht mit allem Heldenmut dieser roten Morderflut entgegenstemmen.«

Koch verlas den Aufruf Ehrenburgs wie ein Schauspieler einen dramatischen Text. Den Tagesbefehl des Marschalls Tschern-jakowskij unterschlug er. Als er den Vortrag beendet hatte, warf er das Blatt auf den Boden und stampfte mit den Stiefeln darauf. Die versteinerten Gesichter vor sich nahm er nicht wahr, auch nicht, da? Wachter die Hande gefaltet hatte. Kreisleiter Wagner ruckte nervos an seiner Koppel herum. Bruno Wellenschlag schluckte mehrmals, als verstopfe etwas seinen Hals.

«Sie haben es gehort!«schrie Koch mit hochrotem Gesicht.»Das ist ein Aufruf zum Mord! Das ist der Befehl, unsere Frauen zu vergewaltigen! Die bolschewistischen Bestien werden losgelassen! Ein dreckiges Judenschwein will uns den Arsch aufrei?en! Manner… es geht jetzt nicht mehr darum, ein Stuck Land zu verteidigen. Wir mussen unsere Frauen und Kinder retten! Wir kampfen bis zum letzten Mann. Sieg heil!«Bevor sie alle den Saal mit der riesigen Hakenkreuzfahne verlie?en, winkte Koch mit der rechten Hand Dr. Findling und Wachter, zu bleiben. Als sie allein waren, fiel die Maske des Kampfers fur Fuhrer und Volk von Koch ab. Mit verzerrtem Mund, seinen kleinen Schnurrbart streichelnd, kam er auf sie zu.

«Man erwartet jeden Tag den Beginn der gro?en sowjetischen Offensive«, sagte er.»Heute oder morgen oder ubermorgen… langer wird's nicht dauern. Wir alle vertrauen auf unsere tapferen Soldaten, eine Uberlegenheit des Feindes hat uns noch nie geschreckt. Nicht 1870/71, nicht im Ersten Weltkrieg und heute schon gar nicht. Trotzdem… Findling, kann mein Bernsteinzimmer sofort verlagert werden?«

Er sagte tatsachlich» mein Bernsteinzimmer«. Dr. Findling starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.

«Naturlich ware das moglich, es kommt nur darauf an, wohin. Man mu?te es fur einen langeren Transport allerdings neu und besser verpacken.«

«Ich habe daruber nachgedacht. «Koch nahm eine kleine Wanderung vor Dr. Findling auf. Drei Schritte hin, drei Schritte zuruck.»Ich habe auch schon mit Gauleiter Mutschmann in Dresden gesprochen. Er halt die Sachsische Schweiz nicht fur sicher genug. Eine wirkliche Sicherheit bieten nur Thuringen oder die Salzbergwerke

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