Fuhrer nicht an den Apparat, und auch Bormann ist in der Parteikanzlei nicht zu erreichen. Findling, keine Angst… ich bekomme stundlich die Meldungen von der Front. Wir machen es dem Russen schwer, auf Konigsberg vorzurucken…«

«… und uns schwerer, das Bernsteinzimmer zu retten. «Wachter hatte die Kellerwohnung bereits bis auf sein Bett geraumt. Fur ihn war es selbstverstandlich, da? er den Trans-port, wohin auch immer, begleiten wurde. Dr. Findling, der seit acht Tagen zum Volkssturm gehorte und eine alte Uniform trug, aber keine Waffe, getreu des Witzes, den man sich jetzt erzahlte: Was ist der Volkssturm? Eine Einheit von drei Mann, der eine tragt den Stahlhelm, der andere das Koppel, der dritte die Panzerfaust… mu?te wahrscheinlich noch in Konigsberg bleiben, wie Gauleiter Koch, bis zum letzten Mann…

Es war nicht viel, was Wachter mitnehmen wollte: zwei Anzuge, Wasche, Schuhe, Hemden, das Allernotigste nur, und seine Reise-Ikone in einem mit Samt ausgeschlagenen ledernen Futteral. Die letzten Nachte lag er immer angezogen auf dem Bett, sofort zum Abmarsch bereit.

Die Lazarette und Krankenhauser von Konigsberg quollen nun uber von Verwundeten. Was die Landser von der Front erzahlten, deckte sich mit dem, was Sylvie jeden Tag uber Schweden per Funk erfuhr, was aber in keinem Wehrmachtsbericht stand: Die Truppen des Marschalls Tschernjakowskij brachen in einem weiten Bogen in die deutschen Linien ein. Die deutsche 3. Panzerarmee, allein gelassen gegen sechs sowjetische Armeen in bester Verfassung und mit uberlegener Ausrustung, wurde an vielen Stellen auseinandergerissen. Gumbinnen war schon verloren, Insterburg lag unter einem verheerenden Granat- und Bombenfeuer, Goldap und Lotzen waren verloren, Kraupischken besetzt, aus dem Suden stie? Rokossowskij vor und eroberte Nikolaiken und Ortelsburg. Hunderte schwere Panzer vom Typ T 34 und T 42 ruckten unaufhaltsam auf Allenstein und Wartenburg zu. Der Ring um Konigsberg schlo? sich… nur noch der Seeweg war frei und eine schmale Landverbindung nach Danzig uber Heiligenbeil, Braunsberg und Elbing. Eine einzige Eisenbahnlinie und einige wenige Stra?en… uberfullt von den Fluchtlingstrecks und Wehrmachtsverbanden, unter Beschu? von Tieffliegern, weittragenden Granaten und einem Bombenregen.

Die schweren deutschen Panzer» Tiger «und» Konigstiger«, die sich dem Ansturm der Roten Armee hatten entgegenstemmen konnen, lagen nach einigen Tagen hilflos herum und wurden sogar wie kleine Festungen eingegraben. Der Sprit war verbraucht, neuer Brennstoff kam kaum durch, die Granaten fur die Bordgeschutze wurden gezahlt. Auf ratselhafte Weise verschwanden Nachschubzuge mit Munition und Benzin im Nichts. Der Oberquartiermeister der 2. Armee, die den Hauptangriff von Rokossowskijs sechs Armeen auffangen mu?te, Oberst Wirsing, verfolgte am Telefon die Meldungen der Stationen, die ein Zug mit Tankwagen, mit dem lebenswichtigen Panzersprit, durchfuhr. Der Zug, der sich uber Deutsch-Eylau der verzweifelt kampfenden 2. Armee naherte. Und plotzlich war dieser Zug verschwunden, wie von Geisterhand weggewischt. Oberst Wirsing verfolgte noch einmal den Weg des Zuges, aber von nirgendwoher bekam er eine Antwort.

Die deutsche Lehrerin Elsbeth Langenbach, die in der deutschen Schule von Unieck unterrichtete und die man bei der kopflosen Flucht der Nazifuhrer» vergessen «hatte, worauf sie auf einem Pferd vierzig Kilometer durch die vorsto?enden sowjetischen Panzerspitzen geritten war, bis sie die Linien der 2. Armee erreichte und zum Generalstab weitergereicht wurde, horte die verzweifelte Suche nach dem Spritzug mit. Fassungslos sah sie Oberst Wirsing an, als er die Telefonate am Feldtelefon abbrach und resignierend sagte:»Es hat diesen Zug nie gegeben. Es war ein Gespensterzug. Was nutzen uns jetzt unsere Panzer…?«

Alles war moglich in diesen Tagen des Zusammenbruchs der deutschen Ostfront. Wahrend in Konigsberg die Durchhaltepa-rolen von den Hauswanden schrien, wurde in der Nacht vom 21. zum 22. Januar heimlich ein» Gauleiter-Sonderzug «zusammengestellt, um Koch und seine Parteiprominenz, die aus ganz Ostpreu?en nach Konigsberg gefluchtet war, uber die einzige Bahnstrecke nach Elbing und weiter nach Danzig in Sicherheit zu bringen. Der» Kampfer bis zum letzten Mann «hatte seine Flucht vorbereitet.

Endlich, endlich am 22. Januar erhielt Koch eine telefonische Verbindung mit der Parteikanzlei in Berlin. Hitler in seinem neuen Hauptquartier war nicht zu sprechen, Bormann, aus Berchtesgaden zuruckgekehrt, wo er unterirdische Anlagen besichtigt hatte, war so kurz angebunden und schroff, wie er immer mit Koch verkehrt hatte.

«Naturlich gibt der Fuhrer die Erlaubnis, unersetzliches Kulturgut zu retten!«sagte er.»Warum ist das nicht schon langst geschehen?! Fast alle Kunstschatze der Museen in den bedrohten Gebieten sind verlagert worden, schon 1944, auch aus Ihren Museen, Gauleiter, das haben Sie ja selbst organisiert… Warum sind das Bernsteinzimmer und die Gegenstande aus Zarskoje Selo noch in Konigsberg? Das ist unverantwortlich, Gauleiter!«

Das hab ich gern, dachte Koch verbittert. Ein Anschi? ohne Grund.»Es gab zwei Grunde, Herr Reichsleiter — «, antwortete er bose.»Erstens sollte durch die totale Verlagerung aller Kunstschatze die Bevolkerung nicht beunruhigt werden, und zweitens stand und stehe ich noch zum Endsieg des Fuhrers!«Bormann schwieg einen Augenblick, vielleicht war er selbst erstaunt uber die letzten Worte Kochs. Ihnen war nichts zu entgegnen.

«Sorgen Sie fur den sofortigen Abtransport«, sagte er dann.»Uber Elbing — Danzig — Stettin, Berlin — Weimar nach Reinhardsbrunn. Im Schlo? Reinhardsbrunn wird dafur gesorgt werden, da? das Bernsteinzimmer eingelagert wird. Als Zwischenstation. Der endgultige Lagerort wird von dort bekanntgegeben.«

«Sie ubermitteln den Befehl des Fuhrers nach Reinhardsbrunn, Herr Reichsleiter?«

«Ja!«

Bormann legte abrupt auf. Koch wischte sich mit beiden Handen uber das Gesicht. Reinhardsbrunn gefiel ihm gar nicht. Das Schlo? kannte er nicht, wohl aber das Geheimnis, da? hier die SS, vor allem Himmler, eine gro?e Menge Kunstschatze des Reichsamtes SS versteckt hatte.»Sein Bernsteinzimmer «neben den Schatzen der SS zu wissen, behagte ihm wenig. Auch Bormanns Mitteilung, da? Reinhardsbrunn nur eine Zwischenstation sein sollte, beruhigte ihn nicht. Warum nicht Thuringen, dachte er wutend. Warum nicht Gottingen? In den sicheren Schachten der Salzbergwerke, deren

Sohlen bis in 600 Meter Tiefe reichten, war der beste Platz, die Schatze zu retten. Man sprengte die Zugange, und niemand, au?er ein paar Eingeweihten, wurde ahnen, was da unter der Erde lag. Bombensicher, gut konserviert, bestens temperiert… ein Lager fur Jahrtausende, in diesem Falle fur ein paar Jahre. Die neue Wunderwaffe, von der man munkelte und flusterte, die Bombe mit Atomkernspaltung, an der ein geheimes Forscherteam zusammen mit Wernher von Braun, dem Schopfer der Raketen V l und V 2, die jetzt taglich auf London niederheulten, unentwegt arbeitete, wurde alle Feinde in einem unvorstellbaren Feuerball von dieser Erde brennen und Deutschland den Sieg bescheren.

In der Nacht zum 22. Januar 1945, die sowjetischen Divisionen hatten Wehlau erobert und standen jetzt nur noch knappe vierzig Kilometer vor Konigsberg, rief Koch den vor Unruhe schlaflosen Dr. Findling an.

«Wir konnen!«sagte er.»Die Transportstaffel ist unterwegs zu Ihnen. Der Transportfuhrer, ein Hauptmann Leyser, hat den genauen Fahrplan bei sich. Bei Morgengrauen mussen die Wagen die Stadt verlassen haben.«

«Ich bin bereit, Gauleiter.«

«Wieso Sie?«Kochs Stimme dehnte sich vor Erstaunen.»Sie brauche ich noch hier. Die Kisten konnen allein reisen. Es ist garantiert von der Parteikanzlei, da? sie uberall bevorzugt behandelt werden und in eine sichere Lagerstelle kommen. Sie konnen jetzt fur das Bernsteinzimmer nichts mehr tun…«

Dr. Findling schluckte. Er wu?te, da? es fur ihn keinen Ausweg gab. Er trug die Uniform des Volkssturmmannes, er hatte auf den Fuhrer seinen Eid als Soldat abgelegt, er fiel unter die Parole» Bis zum letzten Mann«.

«Und Wachter?«fragte er.

«Findling, stellen Sie doch jetzt, wo's eilt, nicht so dumme Fragen! Was soll Wachter denn bei dem Transport?«

«Aufpassen. Wie immer. Wie seit uber 226 Jahren!«

«Will er etwa auch noch mit hinunter in die 600-Meter-Sohle eines Bergwerkes?«fragte Koch spottisch.»Ein moderner Barbarossa? Der treue Wachter, in Salz konserviert! Nach 226

Jahren hat die Familie Wachter es verdient, sich auszuruhen. Ubrigens ist er noch nicht zu alt, um ein Gewehr zu halten und abzudrucken! Er bleibt in der Festung Konigsberg wie Sie… und ich… Der Fuhrer braucht jetzt jeden Mann. Wir wissen doch, seit Ilja Ehrenburg, was uns erwartet. Teilen Sie das Wachter mit.«

Eine Stunde nach diesem Gesprach, das Findling nie vergessen sollte, fuhren in den Schlo?hof zwanzig Lastwagen ein. Dr. Findling traute seinen Augen nicht: Die Aufbauten und die Dacher der Transporter waren gro? mit einem roten Kreuz bemalt, als handele es sich um eine Hilfsguterkolonne oder um Verwundete.

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×