Unterstrichen wurde dieser Eindruck auch noch durch die Ro-te-Kreuz-Armbinden, die jeder Fahrer uber den linken Armel gestreift hatte. Nur Hauptmann Leyser, der in einem Kubelwagen fuhr, trug diese Armbinde nicht.

«Das ist die gro?te Frechheit, die ich jemals gesehen habe«, sagte Wachter gepre?t.»Wenn sich das rumspricht, ist kein wirklicher Lazarettwagen oder Verwundetenzug mehr sicher.«»Um Himmels willen, halten Sie den Mund, Michael!«Dr. Findling stie? Wachter warnend in die Rippen.»Denken Sie nur daran: In den Wagen ist das Bernsteinzimmer! Um es zu retten, wird es als Rote-Kreuz-Fracht getarnt. Nur daran mussen Sie denken. Ich mochte nicht wissen, wieviel Dinge unter dem Schutz des Roten Kreuzes hin und her geschoben werden. Mein Gott, denken Sie in unserer Situation blo? nicht an Moral!«Dr. Findling sah dem Auffahren der Lkw-Kolonne zu.»Morgen ist alles vorbei. Da sind wir Volkssturmmanner.«

«Ich nicht, Herr Doktor.«

«Wachter, was haben Sie vor?«

«Ich bleibe naturlich bei dem Bernsteinzimmer.«

«Das ist Wahnsinn! Wissen Sie, was das bedeutet? Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind! Von einem Schnellgericht werden Sie zum Tode verurteilt und aufgehangt oder erschossen!«

«Ich nicht.«

«Warum sollte man mit Ihnen eine Ausnahme machen? Wie wollen Sie uberhaupt aus Konigsberg raus? Sie haben keinen Marschbefehl. Dieser Hauptmann Leyser wird sich huten, Sie heimlich mitzunehmen. Jetzt werden sogar Ritterkreuztrager aufgehangt — «

«Ich werde es schaffen, Doktor. «Wachter atmete tief ein. Die Sorge, was aus Jana wurde, war noch nicht gelost. Fur Oberschwester Frieda Wilhelmi war sie unentbehrlich geworden. Die Masse der Verwundeten, die mit Lazarettzugen oder San-kas nach Konigsberg gebracht wurden, hatte die Aufnahmefahigkeit der Krankenhauser, der Notlazarette in Schulen und Turnhallen und den weit verzweigten alten Festungsanlagen von Konigsberg langst uberschritten. Die alten Forts und Bollwerke waren uberfullt, es gab zu wenig Arzte und Schwestern, Sanitater oder Hilfskrafte. Lehrerinnen und Frauen in Sozialberufen wurden dienstverpflichtet. Sie wuschen die Verwundeten, gaben ihnen zu trinken, futterten sie und druckten den Toten die Augen zu, sa?en bei den Sterbenden und waren oft Mutter-, Frau- oder Brautersatz in den letzten Stunden.

«Wann kommen wir heraus?«fragte Jana an einem dieser Tage.

«Heraus?«Frieda hatte sie erstaunt angesehen.»Wann es befohlen wird.«»Und wenn das zu spat ist?«

«Ich bleibe, solange noch ein Verwundeter hier im Haus liegt!«»Die Russen werden Konigsberg erobern…«

«Na und? Konnen meine Verwundeten weglaufen? Ich gehore zu ihnen, sie brauchen mich.«

«Die Russen werden dich vergewaltigen… denk an den Aufruf Ehrenburgs.«

«Mich vergewaltigen?«Frieda, der Turm aus Knochen und Fleisch, lachte kurz auf.»Da mussen schon vier sibirische Riesen kommen…«

«Toten werden sie dich! Ganz einfach toten.«

«Tochter! Wer hatte das gedacht, du bist ja auch von der Propaganda verseucht! Ob Deutsche oder Russen, man kann mich uberall brauchen. Man wird froh sein, da? ich noch da bin. Wir Arzte und Schwestern kennen weder Freund noch Feind, nur Verletzte, Kranke, Hilfesuchende. Merk dir das,

Tochter!«

Janas letzter Besuch bei Sylvie wurde zu einer Qual. Unentwegt funkte diese ihre Beobachtungen nach Schweden, die von dort zur Zentralstelle in Leningrad weitergegeben wurden. Die Zehntausende von Fluchtlingen, die am Haff und am Bahnhof auf einen Platz in einem Eisenbahnwaggon oder auf einem Schiff warteten, die Schanzarbeiten an neuen Verteidigungslinien, das Aufstellen neuer Panzersperren aus Beton, das Hereinstromen der letzten Reserven, die versuchen sollten, einen Riegel vor Konigsberg zu bilden… Berichte waren es, die der sowjetischen Fuhrung zeigten, da? erzweiflung ungeahnte Krafte mobilisieren kann und da? es noch viel Blut kosten wurde, bis man in Konigsberg einmarschieren konnte. Aber das kannte man von Leningrad her. Neunhundert Tage Blockade durch die deutschen Truppen hatte man uberstanden, eine Hingerholle ohne Beispiel, bis im Januar 1944 die Stadt von der sowjetischen 42. Armee befreit wurde.

Fur Konigsberg aber gab es keine Befreiung mehr. Ob noch Tage oder Wochen… der Untergang war sicher.

«Ich will Abschied nehmen«, sagte Jana Petrowna. Sie sa? Sylvie gegenuber, die ihr Funkgerat gerade abgestellt hatte.»Abschied? Wieso?«Sylvie sah Jana unglaubig an und schuttelte dabei den Kopf.»Was soll das hei?en?«

«Ich werde Konigsberg verlassen.«

«Bist du verruckt? Wo willst du denn hin?«

«Ich wei? es nicht. Noch nicht…«

«Jana, das ist Wahnsinn! Du bleibst hier bei mir in Konigsberg, wirfst die Nazitracht weg, wirst dich beim sowjetischen Kommandanten melden, eine russische Feldscher-Uniform bekommen und wieder das sein, was du bist: eine Russin. Und nach dem Sieg wirst du deinen Nikolaj wiedersehen…«

«Ich kann Vaterchen nicht allein lassen, Sylvie.«.»Michail Igo-rowitsch wird man mit offenen Armen aufnehmen. Ein Held wird er sein.«

«Ohne Bernsteinzimmer? Was ist Vaterchens Leben wert ohne Bernsteinzimmer? Er bleibt bei ihm, wird mitziehen, wohin man es auch bringt, nicht trennen kann man ihn von ihm. Und

ich mu? bei ihm bleiben, Sylvie. Er pa?t auf das Bernsteinzimmer auf und ich auf Vaterchen. Das ist meine Pflicht.«»Pflicht! Pflicht! Uberleben sollst du! Wulst du als deutsche Krankenschwester irgendwo verrecken? Jana, in ein paar Tagen kannst du wieder eine Russin sein!«

«Ohne Bernsteinzimmer und Vaterchen.«

«Du bist verruckt, verruckt, verruckt!«schrie Sylvie und sprang auf.»Ist denn das Bernsteinzimmer das Wichtigste auf der Welt?!«

«Fur uns — ja.«

«Man sollte dich mit kaltem Wasser ubergie?en, damit du endlich vernunftig wirst. Was kannst du denn tun, wenn die Nazirauber das Bernsteinzimmer irgendwo vergraben?«

«Ich bin dabei… ich wei?, wo es vergraben ist… ich kann es nach dem Krieg wieder ausgraben lassen und zuruckbringen nach Puschkin in den Katharinen-Palast. Das allein ist meine Aufgabe.«.»Und dafur haltst du den Kopf hin!«

«Ja. An den Fronten sterben unsere Manner und kampfen um ihr Vaterland. Ich kampfe auch, nur auf einem anderen Kampfplatz.«

«Der geheime Soldat Jana Petrowna! Wie heldenhaft das klingt! Und nun… warum bist du gekommen?«

«Um Abschied zu nehmen, Sylvie. «Jana faltete die Hande im Scho?. Das Herz wurde ihr schwer.»Ich hoffe, da? wir uns wiedersehen.«

«Wo?«

«In Leningrad, oder bei dir, in Schweden, in Uppsala oder sonstwo. Was wirst du nach dem Krieg tun?«

«Ich wei? es noch nicht. Weiterstudieren oder heiraten und Kinder kriegen, ein Sommerhauschen auf den Scharen… wie kann man sagen, was unsere Zukunft ist? Nicht schwer wird es sein, dich zu finden: Wo das Bernsteinzimmer ist, bist auch du.«

«So Gott will, Sylvie.«

«Du glaubst an Gott?«Sylvie starrte Jana verblufft an.»Du — eine Kommunistin?! Eine ehemalige Komsomolzin?«

«Ja. Ich glaube an Gott. Ich bete sogar.«

«Aus dir soll man klug werden. «Sylvie umarmte Jana, als diese aufstand, sie ku?ten sich wie zwei Schwestern, und dann ri? sich Jana los und rannte aus der Wohnung, als hatte sie jemand davongejagt. Gab es ein Wiedersehen?

Aus der Ferne, vom Wind herbeigetragen, rollte Kanonendonner uber die Stadt. Ein Gewitter des Todes und der Zerstorung.

Die zwanzig Lkws mit dem roten Kreuz waren beladen. Die Kisten, in denen das Bernsteinzimmer, von allen Seiten gut gepolstert, stand, trugen einen roten Punkt. In den anderen Verschalungen steckten die beruhmte

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