Schokolade geben.

Erst als sie sich schon umdrehen und weggehen wollte, sah sie, da? auf dem Kopfkissen ein Briefkuvert lag. Frieda Wilhelmi schlo? die Augen und atmete tief durch. Nein, sagte sie zu sich, nein! Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Das tut Jana nicht. Das kann sie mir nicht antun! Dieser Brief ist nicht fur mich. Nein, ich gehe nicht zum Bett und fasse ihn an. Nein! Nein!

Aber sie tat es doch. Sie setzte sich langsam auf die Bettkante, ri? den Umschlag auf, und schon der erste Satz, die Anrede, bestatigte die gro?e Tragodie ihres Lebens.

Meine liebe» Mutter «Frieda.

Alle Zeilen des Verlassene fangen an: Wenn Du diesen Brief liest, bin ich… Nein, so soll es bei uns nicht sein. Ich habe Dich nicht verlassen. Ich habe mich nur eine kurze Zeit von Dir entfernt und wei?, da? wir uns Wiedersehen. In einer besseren Zeit, in einem endlichen frieden, in einer Freiheit wie Vogel in der Luft, wie Wolken unter dem Himmel.»Mutter«, verzeih mir, ich mu?te es tun. Nicht aus Feigheit, nicht aus Angst, glaub mir, ich ware bei Dir geblieben, wenn ich nicht eine andere Aufgabe zu erfullen hatte, von der ich Dir heute noch nichts sagen kann. Aber wenn wir uns wiedersehen, wirst Du mich verstehen, das wei? ich. Wieviel habe ich Dir zu verdanken. Nicht nur das Schreibmaschineschreiben, nicht nur die Kenntnis von Spritzen, Nadeln und Kanulen, von Verbanden und Wundenbehandlung, vom Trost fur die Sterbenden und den trostenden Worten fur die Hinterbliebenen. Wie oft habe ich sie geschrieben, die Briefe an die Mutter und Vater, an die Frauen und Kinder. Er ist sanft und ohne Schmerzen eingeschlafen… dabei hat er geschrien und sich an mich geklammert, als sei ich das Leben. Wir haben aus Trost gelogen und fanden, da? es notwendig sei.»Mutter«, ich will jetzt nicht lugen, Dich nicht belugen, der ich soviel im Leben verdanke, vor allem Deine Mutterliebe, in die ich mich in Stunden der Angst und der Reue verkriechen konnte. Bei Dir war ich zu Hause. Bei Dir war ich sicher. Du hattest eine Burg um mich gebaut. Das werde ich Dir ewig danken. Und einmal wird der Tag kommen, an dem ich allen Dank uber Dich ausschutten kann und zu Dir Mutter sagen werde.

Frieda… ich stamme nicht aus Lyck in Ostpreu?en. Ich bin eine Russin aus Leningrad, hei?e Jana Petrowna Ro-gowskaja und bin als falsche Rote-Kreuz-Schwester hinter die deutsche Front eingesickert, um meinen Auftrag zu erfullen. Nein, ich schwore Dir, ich bin keine Spionin, ich habe Deine Liebe nicht fur die Spionage ausgenutzt, ich habe mit dem Militar nichts zu schaffen, ich habe keinen verraten, bitte glaub es mir. Mehr kann ich Dir heute nicht sagen.

Gott sei bei Dir, Mutter Frieda. Gott gebe uns die Gnade, uns wiederzusehen. Pa? auf Dich auf, zu sagen, la? Dich nicht unterkriegen, ware falsch: Du la?t Dich nicht unterkriegen! Ich umarme Dich, ich kusse Dich. Sei nicht enttauscht von mir. Wo ich auch sein werde, in meinem Herzen bist Du dabei. Deine Jana Petrowna.

PS.: Ich habe aus Deinem Schreibtisch einen BlankoMarschbefehl, unterzeichnet von Dr. Pankratz, gestohlen und ausgefullt. Verzeih mir, aber er ist der Pa? fur ein Uberleben.

Frieda Wilhelmi las den Brief langsam durch, Wort fur Wort, ganz langsam, als wolle sie ihn auswendig lernen. Dann zerri? sie ihn, nahm ihn mit in ihr Zimmer und steckte ihn in den Ofen. Sie sah zu, wie er verbrannte, zerstorte mit dem Schureisen auch noch die Asche und warf dann die Ofenklappe zu. Jana Petrowna, Tochter, Gott sei auch mit dir.

Die Stra?e und die Eisenbahnlinie nach Elbing waren noch frei an diesem Morgen, dem 22. Januar 1945. Die sowjetische 48. Armee, 65. Armee und 2. Panzer-Armee stie?en weitraumig uber Osterode und Deutsch-Eylau auf die Kuste zu, schwere Artillerie hatte Stra?e und Bahn bereits unter Beschu?, Tiefflieger sturzten sich auf die endlosen Fluchtlingstrecks und Militarkolonnen, aus Konigsberg lief der letzte D-Zug nach Westen aus. Im Morgengrauen des 22. Januar… dann war der Weg in die Freiheit versperrt.

Die Nachricht, da? der Russe durchbrechen wurde, loste eine unvorstellbare Panik aus. Die wichtigste Versorgungsstelle und das Zentrallager des Nachschubs, das Heereszeugamt in Ponart, wurde von seinem eigenen Leiter in Brand gesetzt. Die gesamte Besatzung des am Stadtrand von Konigsberg gelegenen Lufthansa-Flugplatzes Devau fluchtete mit dem Flugzeug ins Reich; als Militar den Platz besetzte, fand es die Panzerschranke offen vor, randvoll mit geheimen Unterlagen.

Gauleiter Koch tobte. Todesurteile wurden gefallt und sofort ausgefuhrt. Da der Landweg nun versperrt war, setzte bei den verzweifelten Fluchtlingsmassen, die sich noch in der Stadt drangten, ein Sturm auf die letzten Schiffe im Hafen ein. Uberfullt, tief im Wasser liegend, stampften sie hinaus in die Ostsee, begleitet von kleinen Marinefahrzeugen, die nie in der Lage gewesen waren, sowjetische U-Boot-Angriffe abzuwehren. Nur weg, weg aus dem sich bildenden Kessel Konigsberg. Weg von den Russen, die nach den Aufrufen ihrer Fuhrung keine Gnade mehr kannten. Wenige der Fluchtenden nur dachten daran, da? sie nun das gleiche Schicksal erlitten, das vor ihnen die russische Bevolkerung beim Vormarsch der deutschen Divisionen auf sich nehmen mu?te. Hunderttausende Tote durch Hunger, Verfolgung, Deportation, Erschie?ungen, allein in Leningrad wahrend der neunhunderttagigen Blockade. Die Verhungerten lagen auf den Stra?en herum und wurden mit Schlitten, auf Brettern und auseinandergeklappten Pappkartons, mit Handwagen oder einfach uber die Schulter geworfen zu den Friedhofen gebracht. Hunderttausende unschuldiger Menschen. Wer kann das vergessen?

Die Rote-Kreuz-Kolonne, die zwanzig Lkws mit dem Bernsteinzimmer und den» Gauleiter-Schatzen«, qualte sich durch den Fluchtlingstreck langsam nach Elbing. Hauptmann Leyser studierte wahrend der Fahrt die Karte und schuttelte mehrmals den Kopf.

«Wenn das so weitergeht im Schrittempo, erreichen wir nie Berlin. Der Treck wird von Elbing aus die Stra?e nach Danzig und weiter uber Stolp — Koslin — Stettin vollig verstopfen! Wir mussen weg von der gro?en Linie und versuchen, uber den schmaleren Weg Elbing — Marienburg — Graudenz — Bromberg — Schneidemuhl — Landsberg Berlin zu erreichen. Wenn der Russe nicht schneller ist — «Er sah Jana an, die neben ihm im Kubelwagen sa?.»Was halten Sie davon?«

«Ich wei? es nicht. Ich kenne den Weg nicht. Ich wei? nur, da? der Russe sehr schnell ist.«

Sie fuhren drei Tage und drei Nachte, ununterbrochen, selbst die Mahlzeiten verzehrten sie im Fahren. Als sie endlich durch

Graudenz fuhren, das in panischer Raumung begriffen war, atmeten sie alle auf. Von hier ab lag der Weg nach Berlin noch frei vor ihnen, die deutsche 2. Armee hatte einen Riegel gebildet, gegen den funf sowjetische Armeen anrannten. Aber auch diese Stra?e lag unter dem Artilleriefeuer der russischen 65. Armee, und in Richtung Thorn — Bromberg stie? die sowjetische 47. Armee des Marschalls Schukow vor, wahrend gleichzeitig aus dem Raum sudlich Warschaus funf Armeen in den Raum Lodz, Posen, Bromberg marschierten. Jetzt, am 25. Januar — die russische Artillerie scho? bereits in die Stadt Konigsberg und in den Hafen hinein — war es noch immer ein Wettrennen, aber man war der Umklammerung entkommen. Hauptmann Leyser lie? kurz anhalten und erklarte die Lage.»Wir haben richtig gehandelt, Leute!«sagte er.»Die Stra?en uber Bromberg — Schneidemuhl und Landsberg sind noch frei. Wenn wir jetzt auf die Tube drucken, fahren wir vor den Sowjets her, immer im Rucken der zuruckgehenden 9. Armee. Jungs, wir erreichen Berlin! Es wird zwar Tierfliegerangriffe geben, aber keine Bomben und Granaten. Aufgesessen und ab die Post!«

Tiefflieger — plotzlich ein Pfeifen in der Luft, heranjagende Schatten mit Flugeln, das Hammern schwerer Maschinengewehre und das Bellen von Bordkanonen… drei-, viermal von allen Seiten… und dann war der Spuk wieder im Himmel verschwunden.

Neunmal erlebte die Lkw-Kolonne einen solchen Angriff, ohne beschossen zu werden. Das weithin auf den Dachern der Wagen leuchtende Rote Kreuz war ein sicherer Schutz. Die sowjetischen Jager heulten uber die zwanzig Transporter hinweg, umkreisten sie ohne einen Schu?, einige wackelten sogar wie zur Begru?ung, und dann jagten sie weiter, die Stra?e hinunter, um Bahndamme, Fabriken, Zuge, Militarkolonnen und marschierende Truppen anzugreifen.

«Wenn die wu?ten, was wir transportieren!«lachte Unteroffizier Selch. Neben ihm sa? Wachter, der jedesmal den Kopf einzogen hatte.»Keine Angst, Kumpel. Aufs Rote Kreuz schie?en die nicht. So sind sie nun doch nicht, die Russen.«

Am nachsten Tag, dem 26. Januar, erreichten die Russen den Stadtrand von Graudenz und bissen sich an den neuen deutschen Stellungen der 2. Armee fest. Hauptmann Leyser erfuhr es von Offizieren der Infanterie- Reserven, die ihnen auf der Stra?e entgegenkamen. Einer der Offiziere fragte, indem er auf die Lastwagenkolonne zeigte:»Verwundete?«, und Leyser antwortete:»Lazarettmaterial und Einrichtungen.«

Der Offizier wies mit dem Daumen zur Front:»Die Verwundeten sind aber da, Kamerad. Sie fahren in der falschen Richtung.«

«Und dahin — «, Leyser zeigte mit dem Daumen nach Westen,»- werden sie kommen. Es sollen neue Feldlazarette aufgebaut werden. Wie lange, Kamerad, glauben Sie, halt die Front noch?«

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