Sieg ist zum

Greifen nahe. Die Spitzen unserer funften Panzerarmee stehen vor Zehden, nur noch sechzig Kilometer von Berlin entfernt. Wir holen das Bernsteinzimmer ein, Vaterchen, wir holen es ein! Nur stark mu?t du jetzt wieder werden… Darum bin ich bei dir geblieben.«

Wachter nickte schwach, dann schlief er wieder ein, erschopft von dem langen Reden und geschwacht von dem gro?en Blutverlust.

Er traumte, wie er das Bernsteinzimmer betrat. Aufgebaut war es wieder, in seiner ganzen sonnenleuchtenden Pracht. Durch die Fenster flutete das Licht und lie? die Schnitzereien und Wande in allen goldenen Farben funkeln. Schon wollte er an die Wandtafel treten, aus der das Engelskopfchen fur den Zaren Peter gebrochen worden war, um es voll Demut zu kussen, da ri? ihn eine Hand brutal zuruck, und eine harte Stimme sagte auf englisch: No entry!

Kein Eintritt!? Er, Wachter, durfte nicht das Bernsteinzimmer betreten?! Auf englisch befahl man das?! Und plotzlich loste sich vor seinen Augen das Bernsteinzimmer auf, flo? ineinander, zerstob nach allen Seiten, und zuruck blieb eine zerstorte schwarze Wand mit Rissen und Lochern, durch die ein Sturm ihm den Hut vom Kopf ri?.

Mit einem lauten Stohnen wachte er auf. Jana war wieder bei ihm, druckte ihn in die Kissen zuruck und streichelte sein Gesicht.»Ganz ruhig, ruhig…«sagte sie.

«Tochterchen, Janaschka!«schrie er und wehrte sich gegen ihre Hande.»La? mich los! La? mich gehen! Ich habe es gesehen… ich habe mein Bernsteinzimmer verloren.. Jana, das Zimmer gibt es nicht mehr.«

Dann fiel er in Ohnmacht, und es sah aus, als sterbe er jetzt wirklich…

An einem der letzten Januartage 1945 fuhr eine SS-Kolonne mit vier gelandegangigen Wagen in den kleinen Ort Nu?dorf am Attersee ein und hielt vor dem Gemeindehaus. Uber dem See, dem gro?ten von Osterreich und beliebt bei den Urlaubern wegen seiner herrlichen Lage zwischen Wiesen und Fels, lag dichter Nebel. Die grauen Schwaden trieben an der schroffen, steilen, zerklufteten Wand des Hollengebirges am jenseitigen Ufer hoch. Die Stra?en waren schneeglatt, zum Teil vereist, und selbst die vierradangetriebenen Wagen der SS hatten Muhe gehabt, am See entlang vorwarts zu kommen. Der Kommandant der kleinen Truppe, ein SS-Untersturmfuhrer, eingehullt in einen langen, pelzbesetzten Mantel, sprang aus seinem Wagen und betrat das Burgermeisteramt.

Vom Fenster aus hatte der Gemeindeschreiber mit heruntergezogenen Mundwinkeln die Anfahrt der SS- Fahrzeuge gesehen und trat nun von der Gardine zuruck.

«Jetzt kommt er«, sagte der Schreiber,»in seiner ganzen Pracht.«

«Halt blo? das Maul!«sagte der Burgermeister warnend.»Die SS seh i lieber von hinten…«

Burgermeister Karl Wiesinger, gleichzeitig Besitzer des Lokals» Brauwirt «in Nu?dorf, war ein aufrechter Mann und Patriot. Jeden Tag verfolgte er anhand der Wehrmachtsberichte auf einer Landkarte die Bewegungen der deutschen und feindlichen Truppen und wunderte sich oft, wie geschickt die Wehrmachtsberichte gro?e Gebietseinbu?en verschleierten. Da war von strategischen Ruckzugen die Rede, von Frontbegradigungen und Gelandeverlegungen. Auf der Karte mitverfolgt, sah das ganz anders aus… da erkannte man, da? die gegnerischen Armeen Deutschland von allen Seiten einschnurten und immer tiefer ins Reich vordrangen. Unaufhaltsam und schnell. Vor allem aber interessierte Wiesinger die Front im Suden, von Ungarn und Bayern. Hier kam der Krieg unmittelbar auf Nu?dorf zu, auch wenn nicht zu befurchten war, da? ausgerechnet der Attersee einmal die Hauptkampflinie werden wurde. Von Munchen heruber brachte der Wind das Donnern der Bombenangriffe bis nach Nu?dorf, ab und zu sah man bei klarem Wetter sogar den roten Widerschein der Brande am Himmel, aber die Angst der Nu?dorfer hielt sich in Grenzen. Auf sie marschierte nicht der Russe zu, sondern der Amerikaner, und das waren keine Unmenschen. Nur die Neger bereiteten

Sorgen, vor allem, wenn sie betrunken waren, sollten sie wie die Wilden sein. So erzahlte man… Genaueres wu?te man nicht. Wer in Nu?dorf war schon mal einem Neger begegnet, hochstens im Zirkus, wenn der seine Zelte in St. Georgen, Vocklabruck, Wels oder Salzburg aufschlug.

Die Tur sprang auf, ohne Anklopfen, und der SS-Unter-sturmfuhrer trat in das Gemeindezimmer. Burgermeister Wiesinger stand an einen Aktenschrank gelehnt und wartete ab, was da kommen wurde.

«Heil Hitler!«sagte der SS-Fuhrer und lie? den Arm hochschnellen.

Wiesinger hob auch den Arm, aber er schwieg.

«Wer ist hier der Burgermeister?«

«Ich.«

«Aha!«Der SS-Fuhrer musterte kurz den Mann vor sich und kam dann sofort zur Sache.»Das ist ein Sonderkommando des Reichsfuhrers SS in Verbindung mit dem AA.«

Aha, dachte Wiesinger ruhig. Auswartiges Amt, hei?t das. Kann aber auch hei?en: Alles Arschlocher! Suchen wir's uns aus.

«Gru? Gott in Nu?dorf-«sagte er freundlich.»Haben Sie einen Wunsch?«Der SS-Untersturmfuhrer holte aus seiner am Koppel hangenden ledernen Kartentasche einen genauen Plan vom Attersee und Umgebung hervor und breitete ihn auf dem Schreibtisch vor Wiesinger aus. Einige Stellen waren mit Rotstift eingekreist. Ein paar dieser Kreise waren dick durchgestrichen. Ob auch Nu?dorf umrandet war, konnte Wiesinger von seinem Platz aus nicht sehen. Hat es einen Kreis, dachte er nur, wird auch er durchgestrichen, was auch der Kreis bedeuten mag.

«Haben Sie Hohlen?«fragte der SS-Fuhrer und sah Wiesinger scharf an.

«Hohlen?«Wiesinger wischte sich schnell uber das Gesicht und trat einen Schritt naher.»Was fur Hohlen?«

«Tiefe, geraumige, bombensichere, trockene, naturbeluftete Hohlen…«

«Naturbeluftete… Na! Haben wir nicht. Wo sollen in Nu?dorf naturbeluftete Hohlen sein?«

«In der Umgebung! In Ihren Bergen! 300 Quadratmeter genugen.«

«Wir haben auch keine 300 Quadratmeter naturbeluftete-«

Der SS-Fuhrer winkte energisch ab. Der Gemeindeschreiber zog den Kopf zwischen die Schultern und blinzelte zu Wiesinger hinuber. Karl, sei vorsichtig. Wenn der merkt, da? du ihn verarschst…

«Hier gibt es doch uberall Hohlen!«Der SS-Untersturmfuhrer beugte sich wieder uber seine Karte.»Uberall! Salzbergwerke, Tropfsteinhohlen…«

«Die sind nicht trocken«, sagte Wiesinger freundlich.»Zwar naturbeluftet, aber…«

«Schon gut!«Zufrieden sah Wiesinger, da? der SS-Fuhrer den roten Kreis, der also doch um Nu?dorf gemalt war, durchstrich. Das hatten wir, dachte er. Was nun?» Kennen Sie Hohlen?«

«Genug. «Wiesinger machte eine weite Handbewegung.»Im Dachsteingebiet gibt's genug, druben im Hollengebirge bestimmt auch, im Salzburgischen sind die Salzbergwerke. Wozu brauchen Sie eine Hohle?«

«Unwichtig.«

«Woll'n Sie was einlagern? Da gibt es doch schon ein Depot… in Alt-Aussee.«

Der Kopf des SS-Fuhrers schnellte hoch.»Was wissen Sie von Alt-Aussee?!«schnarrte er. Wiesinger horte sofort die Warnung in der Stimme.

«Ich habe das irgendwo gehort…«

«Dann vergessen Sie sofort und grundlich, was Sie gehort haben, Herr Burgermeister. «Der SS- Untersturmfuhrer faltete seine Karte zusammen und steckte sie zuruck in die lederne Tasche am Koppel.»Im Hollengebirge, sagen Sie? Danke. Wie sind dort die Stra?enverhaltnisse?«

«Stra?en?«Wiesinger bezwang sich, nicht zu lacheln.»Um diese Jahreszeit? Da wunsche ich Ihnen viel Gluck.«

Der SS-Fuhrer wolbte die Unterlippe vor, warf einen Seitenblick auf den Gemeindeschreiber, sagte stramm:»Heil Hitler «und verlie? das Buro. Hinter der Gardine beobachteten Wiesinger und der Sekretar die Abfahrt der SS-Kolonne.

«Die wollen was verstecken«, sagte der Gemeindeschreiber.»Karl, das hat was mit der >Alpenfestung< zu tun! Die rechnen damit, da? hier der Endkampf stattfindet. So eine Schei?e!«»Warten wir's ab. «Burgermeister Wiesinger starrte auf die schneeglatte Stra?e.»Das andert sich jetzt alles von Tag zu Tag…«

Am 3. Mai 1945 warteten, verschanzt an der zu Nu?dorf gehorenden Ortschaft Zell, Einheiten der Wehrmacht und SS-Soldaten einer ungarischen Division auf den Vormarsch der Amerikaner. Die 3. und die 7. US-Armee ruckte uber Rosenheim, Salzburg, Braunau und Linz in Osterreich ein. Es gab keinen gro?en Widerstand, die» Alpenfestung «war ein Phantom.

Am 6. Mai 1945 um 12.30 Uhr erschienen die ersten Panzerkolonnen der 3. US-Armee in Nu?dorf. Kampflos

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