«Bis zum 1. Februar ist das hier alles russisch. «Der Offizier lachte verbissen.»Am besten, ihr baut eure Lazarette erst gar nicht hier auf. Schafft sie nach Berlin… da werdet ihr sie bald gebrauchen.«

«Das sieht ja duster aus.«

«Duster?!«Der Offizier gru?te kurz zum Abschied. Nicht mit dem Fuhrergru?, sondern wie fruher mit dem Handtippen an den Mutzenschirm.»Alles Schei?e! Deine Emma! Gute Fahrt, Kamerad.«

Auf der Stra?e von Bromberg nach Schneidemuhl geschah es dann.

Die Kolonne hatte am Rande eines Waldstuckes gehalten, und der Stabsgefreite Hasselmann, der den Kubel fuhr, hatte noch Zeit genug, in einem gro?en Kessel uber einem mit Dieselol getrankten Holzstapel aus zehn Erbswursten eine dunne Suppe zu kochen, in die man Kommi?brotstuckchen brockelte.

Sie sa?en alle am Waldrand in einem weiten Bogen, vierzig Fahrer, Wachter, Jana und Hauptmann Leyser, als das bekannte Gebrumm und Pfeifen plotzlich uber den Baumwipfeln aufklang.

«Flieger von links!«schrie Unteroffizier Selch.

Er warf sich sofort flach in den Schnee, die anderen spritzten auseinander, in den Wald hinter Baume oder Busche, Hauptmann Leyser ri? Jana mit sich in den Schnee und schrie sie an:»Kopf runter! Schnell… robben Sie zum nachsten Baum. «Nur Wachter blieb erstaunt sitzen und starrte den drei sowjetischen Jagern nach, die uber den Wald rasten, einen weiten Bogen flogen und dann, noch flacher uber der Erde, zuruckkamen.

«In Deckung, du Flasche!«schrie ihm Selch zu.»Wir sind nicht im Wagen, wir sind drau?en!«

Zu spat. Aus den spitzen Schnauzen der Flugzeuge spuckten die Maschinengewehre und legten eine Naht von Geschossen vor den Waldrand. Ein Schu? einer leichten Bordkanone traf den Suppenkessel und lie? ihn zerplatzen. Weggeworfene Kochgeschirre wirbelten durchlochert durch die Luft, drei Stahlhelme tanzten im Gescho?hagel uber den Boden, und als jetzt, viel zu spat, Wachter mit einem weiten Satz zwischen die Baume fliehen wollte, bekam er einen gewaltigen Schlag in die linke Schulter. Er taumelte, fiel nach vorn in den Schnee und kroch in den Wald hinein. Dort zerrten ihn drei Fahrer weiter in Deckung… nach einer Wende griffen die Tiefflieger zum zweiten Mal an.

Wachter lag auf dem Bauch und spurte keinen Schmerz. Nur ein heftiges Zittern lief von der Schulter uber seinen ganzen Korper, klebrige Feuchtigkeit spurte er auf der Haut. Blut ist das, dachte er. Ja, das ist Blut. Sie haben mich getroffen, verwundet bin ich, die linke Schulter, wie ein Hammerschlag war's, aber es tut nicht weh, nur wie gelahmt bin ich rechts, kann den Arm nicht mehr heben, alles in mir zittert, als lage ich nackt auf Eis.

Seine Zahne schlugen aufeinander, er konnte es nicht verhindern. Er drehte sich auf den Rucken, starrte zum Baum, unter dem er lag, hinauf und staunte, wie weich und ineinander verlaufend alle Konturen waren und der Schnee nicht mehr wei?, sondern blaulich schimmerte. Und dann war da plotzlich das Gesicht von Jana, ganz nahe uber ihm, ihre schwarzen Augen voll Sorge, ihr schoner Mund, und sie fragte:»Vaterchen, tut's weh? Lieg ganz still, ganz still…«, und dann war das Hammern der Maschinengewehre wieder um sie, das Klatschen der Geschosse in die Baumstamme und den Boden. Er horte, wie der Stabsgefreite Hasselmann brullte:»Diese Saue! Diese Drecksaue! Gibt's kein anderes Ziel als meinen Suppenkessel?«Und dann wieder Janas Kopf, sie sagte Worte, die er nicht verstand, in die hinein er aber flusterte:»Tochterchen, es geht mir gut. Keine Schmerzen. Alles halb so schlimm…«Und dann horte er Leysers Stimme:»Sammeln! Die Schei?e ist vorbei. Seht euch das an! Kein Schu? in die Wagen. Das war 'ne Meisterarbeit!«, und dann Janas Stimme:»Wir mussen ihn mitnehmen. Ich kann ihn nur notdurftig verbinden… bis zur nachsten Stadt…«, und wieder Leysers Stimme:»Das ist Schneidemuhl…«

Dann spurte er, wie man ihn hochhob, zu einem Wagen trug und auf die Ladeklappe legte. Jemand sagte:»Schneid ihm die Uniform auf…«, plotzlich wurde es kalt an seiner Schulter, Jana sagte irgend etwas, die Augen ri? er auf, aber er sah nur Dunkelheit um sich, und dann durchzuckte ihn ein Schmerz, der von der Hirnschale bis zum Zehennagel fuhr. Er schrie auf, vor seinen Augen schien ein Stern zu explodieren, und dann war er im Nichts. Es gab keine Gefuhle und kein Denken mehr.

Irgendwann wachte er auf, horte Gerausche, fuhlte unter seinen Fingern Stoff, aber es blieb dunkel um ihn, und er tauchte wieder unter im Nichts. Als es ihm gelang, die Augen aufzurei?en und die Erinnerung schlagartig zu ihm zuruckkehrte, merkte er, da? er nicht mehr am Waldrand im Schnee lag, auch nicht auf der Ladeklappe eines Lastwagens, sondern in einem Bett, und das Wei? um ihn herum war keine Schneedecke, sondern ein Bettbezug.

Aber Jana war da… ja, ihr Gesicht schwebte wieder uber ihm. Sie lachelte ihn an, und er versuchte, zuruckzulacheln, und dann hob er den Kopf und erkannte staunend, da? Jana eine andere Uniform trug, nicht mehr die Rote-Kreuz-Tracht, sondern eine grune weite Bluse, einen langen grunen Rock und an den Fu?en derbe Stiefel. Und dann horte er Leute spre-chen in einer Sprache, die er kannte, die aber nicht hierher gehorte, eine Frauenstimme sprach mit einem Mann russisch, und der Mann antwortete auf russisch: »Sestra, sei gnadig, gib mir noch eine Spritze. So weh tut's mir im Leib…«

Was war das? Was geht um mich herum vor?

«Ja, Tochterchen…«sagte er muhsam mit schwerer, wie verklebter Zunge.»Wo… wo sind wir?«

«In Schneidemuhl, Vaterchen. Drei Tage hast du geschlafen. Operiert bist du, alles ist gut, nicht steif werden wird dein Arm. Das Schulterblatt wird wieder zusammenwachsen. Ein Geflecht aus Silberdraht haben sie darubergezogen, da wachst der Knochen wieder zusammen. Hast gro?es Gluck gehabt, sagte Dr. Trofim Igorowitsch Fedorenkow. Ein fabelhafter Chirurg ist er.«

«Fedorenkow…«Wachter versuchte, wieder den Kopf etwas zu heben.»Jana, Tochterchen… habe ich einen Fieberwahn? Wo bin ich?«

«Im Lazarett Nr. 3 der sowjetischen 2. Garde-Panzerarmee. Seit zwei Tagen ist Schneidemuhl russisch. Vaterchen, wir sind bei unseren Brudern und Schwestern.«

Wachter lie? sich zuruck auf das Kissen fallen. Der Schmerz uberfiel ihn, nicht vom Rucken her, sondern aus dem Herzen.»Und das Bernsteinzimmer?«fragte er kaum horbar.

«Ich hoffe, es ist jetzt in Berlin.«

«Ohne… ohne uns…?«

«Vaterchen, es ging um dein Leben — «

«Da hattest dabei bleiben mussen, Jana.«

«Vaterchen, du warst mir wichtiger.«

«Das Bernsteinzimmer… wir… wir sehen es nicht wieder. Jana… wird haben versagt… nach 226 Jahren hat ein Wachter versagt… Warum habt ihr mich nicht sterben lassen. «Plotzlich weinte er, Tranen rannen uber seine zerfurchten Wangen in die Mundwinkel. Mit einem Mulltupfer saugte Jana sie weg.»Wie konnen wir Nikolaj jemals wieder unter die Augen treten?«

«Bald ist der Krieg zu Ende, Vaterchen. «Jana beugte sich uber Wachter und trocknete sein Gesicht.»Dann suchen wir es, und wir werden es finden. Wir kennen doch den Weg. Berlin, dann nach Schlo? Reinhardsbrunn in Thuringen, von dort in ein Salzbergwerk. Vielleicht sind wir nach dem Krieg die einzigen, die es noch wissen. Vaterchen, wir finden das Bernsteinzimmer wieder… und eines Tages steht es wieder im Katharinen-Palast, Nikolaj wird es bewachen und pflegen, und du wirst im Park mit deinen Enkeln spielen und ihnen erzahlen, wie Gro?vaterchen von Flugzeugen beschossen wurde, die Narben wirst du ihnen zeigen, und sie werden uberall erzahlen: Unser Gro?vaterchen ist ein Held der Nation. Stolz werden sie alle auf dich sein.«

«Aber ich schame mich. «Wachter drehte den Kopf zur Seite.»Geschworen haben wir…«

«Hat Gauleiter Koch nicht auch geschworen: bis zum letzten Mann? Geflohen ist er, schon am 28. Januar, mit allen seinen Leuten, nach Neutief bei Pillau. Dort wartet er jetzt in einem unterirdischen Hauptquartier auf seine weitere Flucht nach Westen. «Jana umfa?te mit beiden Handen Wachters Gesicht und drehte es wieder zu sich herum.»Vaterchen, gesprochen habe ich mit dem Genossen Generalleutnant Bogdanow, Kommandeur der 2. Garde-Panzerarmee. Erzahlt habe ich ihm alles, habe ihm als Zeugen General Sinowjew genannt. Angerufen hat er Sinowjew, und dann hat Bogdanow gesagt: Das Bernsteinzimmer, hat Lenin gesagt, ist ein Heiligtum der Nation! Verla?t euch auf Bogdanow. Ich werde euch helfen, wo ich kann…«

«Worte. Worte! Alles nur Worte!«Wachter umklammerte Janas Hande.»Wir hatten bei ihm bleiben mussen. Wo sollen wir es spater suchen?«

«Wir kennen seinen Weg, Vaterchen. Wir haben seine Spur.«»Eine Spur? Nichts haben wir, Janaschka! Nichts. Du hattest mich auf einer Kiste festbinden mussen!«

«Dann warst du gestorben…«

«Der einzige Grund, das Bernsteinzimmer zu verlassen, Jana. Der Tod!«

«Klage nicht, Vaterchen. Lieg ruhig, sammle Kraft. Wir ziehen weiter mit unseren Soldaten nach Berlin. Der

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