Um sein Herz krallte es sich wie eine Eisenklammer, als er Noahs breites, grinsendes, glanzendes schwarzes Gesicht sah. Tu etwas, dachte er, frag mich etwas, greif mich an, la? dein Gehirn arbeiten und die Lage erkennen, Noah, steh nicht so grinsend herum, merk doch endlich, was los ist… Aber wie sollte der gute, harmlose Noah Rawlings merken, da? sein Leben nur noch eine knappe Minute dauern wurde?

«Hier stellen wir die Trucks ab?«fragte er sogar unglaubig.»Und den ganzen Weg latschen wir zuruck? Larry, das ist doch'n idiotischer Plan. Meine Beine sind fast lahm…«

«Wir gehen auch nicht zu Fu?«, sagte Larry mit erstickter Stimme. Er spurte in seinem Nacken Joes Blick, der sich aus dem Wagenfenster lehnte und wartete.»Es ist alles so furchtbar, Noah, alles so sinnlos…«

Mit einem Ruck ri? er die Pistole heraus, starrte auf Noahs Stirn, lie? den Lauf in Augenhohe schnellen und druckte sofort ab. Er war einer der besten Schutzen, und genau in der Mitte der Stirn platzte das kleine Loch auf. Mit einem erstaunten Kinderblick sah ihn Noah an, obwohl er schon in derselben Sekunde tot war, dann warf ihn der Aufschlag nach hinten auf den breiten Rucken. Nur ein schmaler Blutfaden flo? aus der Wunde.

Williams sprang aus seinem Truck und rannte zu Larry. Er klopfte ihm auf die Schulter, beugte sich stumm uber den Toten, nahm sein breites Kombimesser aus dem Gurtel und ritzte in die schwitzige, muskelbepackte Brust ein gro?es Hakenkreuz. Als er sich aufrichtete, sah er Larrys Pistole auf sich gerichtet.

«Mach keinen Schei?, Larry«, sagte Joe leise und gefahrlich.»Allein bist du eine Null. Nur mit mir kommst du zu 'ner Villa in Miami. Wir sind ein Team, begreif das! Los, steig ein… in Noahs Wagen. Ich fahr voraus.«

«Warum mu?test du auch noch Noahs Brust zerschneiden…«Larry steckte seine Pistole in das Halfter, Joe atmete sichtbar auf. Das war knapp, dachte er. Larry hat ein empfindsames Gemut, und da gibt es leicht Kurzschlusse.

«Wenn sie ihn finden, sagt jeder: Das war der deutsche >Wer-wolf<. Und uns haben sie gekidnappt oder auch gekillt und besser vergraben. Wir werden von der Liste gestrichen. Kopfchen mu? man haben, Larry.«

«Du bist ein Gangster, Joe«, sagte Larry leise.»Jawohl, ein Gangster. Jetzt wei? ich es. Und die Millionen von deinem

Vater… schmutziges Geld. Hei?t ihr uberhaupt Williams?«

Joe war weit davon entfernt, beleidigt zu sein. Er gab sogar eine Antwort.

«Wir hei?en jetzt Williams, okay? Mein Daddy war ein cleverer Bursche, nicht einen Verdacht, nicht eine Verhaftung, nicht eine Anklage. Wie auch? Er hat mit einer lautlos arbeitenden Organisation ausgesucht hubsche Madchen an sudamerikanische Puffs verkauft. Nie in die USA. Englanderinnen, Schwedinnen, Finninnen, wundervolle Puppchen aus Korea, den Philippinen, Hongkong, Singapur und Macao, braune Schonheiten von Samoa, Tahiti, Fidji und den Cook-Inseln… Larry, die gingen weg wie frischer Schokoladenkuchen. Mit funfzig setzte sich Daddy zur Ruhe und lie? sich als Wohltater bis hinauf zum Senat in Washington feiern. «Williams lachelte Brooks breit an.»Das ist doch ein ehrliches Geschaft, Larry, der eine handelt mit Maschinen oder Apfelsinen, der andere mit Fotzchen…«

«Und du bist ein eiskalter Killer!«

«Im Augenblick bist du es, Larry-Boy. Los, steig ein! Wir bringen Noahs Wagen dorthin, wo sie ihn finden werden.«

Sie fuhren durch das Land, stellten Noahs Truck hinter einer einsam am Feldrand stehenden, leeren, verfallenen Scheune ab und kehrten dann zum Taufstein zuruck.

Zwei Monate spater, im Juni, als der Krieg schon sechs Wochen zu Ende war, meldeten Einwohner von Kronberg im Taunus, da? auf einer Waldschneise seit etwa drei Wochen zwei amerikanische Lastwagen parkten. Ohne Fahrer. Das ware doch merkwurdig. Ein Jeep mit vier MPs raste zur Fundstelle, sie untersuchten die Trucks, stellten erstaunt fest, da? die Tanks noch halb voll waren, und fuhren sie nach Frankfurt zum Hauptquartier. Dort stellte man anhand der Nummern sehr schnell fest, da? sie zu einer Transportstaffel der 3. Armee gehort hatten und in der Liste der Verluste am 16. April als vermi?t eingetragen waren. Bemerkung: Voraussichtlich Uberfall des» Werwolfs«. Die Sache deckte sich mit der Meldung uber den erschossenen GI Noah Rawlings und dessen spater aufgefundenen Wagen.

Der Fall wurde abgehakt und mit einer Randbemerkung geschlossen. Joe Williams und Larry Brooks waren zwar verschwunden, aber nach Lage der Dinge konnten sie nicht mehr leben. Der zustandige Offizier in der 3. Armee erklarte sie fur tot und lie? die Angehorigen verstandigen.

Larrys Eltern weinten, obgleich sich Larry in den letzten Jahren kaum bei ihnen hatte sehen lassen. Der alte Williams lie? auf dem Friedhof von Whitesands eine gro?e Marmorsaule zum Gedachtnis an seinen Sohn errichten und mit militarischen Ehren und Salutschussen einweihen. Sein Ansehen als Vater eines Helden stieg noch mehr. Nur Mrs. Williams, die zeit ihres Lebens glaubte, ihr Mann handele wirklich mit Baumwolle und Erdnussen, nur ihr Sohn sei das gro?e Sorgenkind, sagte tapfer:

«Wer wei?, wofur es gut ist. Joe war ein so ganz anderer Mensch als wir…«

Um diese Zeit lebten Larry und Joe mit gekauften gefalschten Passen sorglos in Frankfurt, bauten in der Moselstra?e ein vormals halbzerstortes Haus auf und grundeten ein StripteaseLokal mit Bar und drei Etagen Einzelzimmer. Es war ein Edelbordell, eines der ersten nach Kriegsende und deshalb eine Goldgrube. Vor allem die GIs standen Schlange, die Deutschen hatten kaum Geld dafur, denn ein anstandiger Fick hatte den Gegenwert von einem Pfund Kaffee, und das kostete 1947 pure 500 Reichsmark. Dafur kauften sich die Deutschen lieber Butter, Speck, einen Braten oder eben Kaffee. Die Dollars aber, welche die GIs den Madchen zwischen die Titten druckten, waren hartes, gutes Geld.

Ende 1947 funktionierte der Postverkehr mit den USA wieder reibungslos. Die besiegten» Krauts «erwiesen sich nach einer Entnazifizierungswelle als durchaus ernstzunehmende Mitmenschen, wahrend man die ehemaligen Kriegsverbundeten, die Russen, nur noch mit der Zange anpacken wollte, was den Mitsiegern schweres Kopfzerbrechen bescherte und Churchill zu der Bemerkung hinrei?en lie?:»Wir haben die falsche Kuh geschlachtet«. Genau am 10. November schickte Joe Williams einen kleinen Brief an seinen Daddy mit der lapidaren Mittei-lung:

Lieber Dad,

Dein Joe lebt. Fur heute nicht mehr. Du horst bald von mir Genaueres. Warte und frage nicht. Dein Jonnyboy.

In Whitesands schlug der Brief wie eine Bombe ein, aber man verhielt sich still. Der alte Williams sprach nicht daruber. Mrs. Williams begann in der von ihnen gestifteten Kirche jeden Tag zu beten, die Marmorsaule blieb stehen und wurde wie bisher mit frischen Blumen geschmuckt. Aber sonst hielt sich der Alte einen Teufel an die Bitte seines Sohnes. Er machte einen umfangreichen Apparat von Privatdetektiven und Agenten mobil, lie? seine Beziehungen spielen und kurbelte eine Suchaktion ohne Beispiel an.

Umsonst. Joe, der seinen Vater genau kannte, hatte den Brief naturlich nicht in Frankfurt zur Post gegeben, sondern war extra dafur nach Hamburg gefahren und hatte ihn dort in den Kasten der Bahnpost gesteckt. Hamburg aber war englisch besetztes Gebiet… die Suche des alten Williams lief sich tot. Larry verzichtete auf Nachricht. Die ware auch nie angekommen — sein Vater, der Leichenwascher, starb an Kehlkopfkrebs, ihm folgte Anfang 1947 Larrys Mutter an Herzversagen. Seit Larrys Todesnachricht war sie immer weniger geworden, wie eine abbrennende Kerze. Der Tod ihres Mannes blies die Kerze aus.

Die verschuttete Hohle im Vogelsberg-Gebiet war bis jetzt nicht entdeckt worden. Der Eingang war in den beiden Jahren zugewachsen, die Hohle lag sowieso an einer Stelle, an die kaum ein Wanderer kam und die auch fur das Forstamt uninteressant war. Die kruppeligen Baume lohnten keinen Holzeinschlag.

Das Bordell in Frankfurt bluhte. Brooks und Williams waren zufrieden. Sie hatten Zeit, und die Zeit half ihnen. Das Bernsteinzimmer geriet in Vergessenheit. Wichtigere Probleme bestimmten das Geschehen: der Aufbau Europas.

Das Bernsteinzimmer nahm ihnen keiner mehr weg.

Kleine Irrtumer merkt man gleich, gro?e Irrtumer bedurfen der Reifung.

Vieles hatte sich geandert seit dem Tag im Jahre 1945, an dem Michael Wachter und Jana Petrowna am Eingang von Reinhardsbrunn standen und dann mit einem vom Ortskommandanten geliehenen Jeep resignierend zuruckgefahren waren. Die letzte Spur hatte ihnen eine alte Kochin des Schlosses gegeben: In den Bogengangen unter dem Ahnensaal des Schlosses hatten Anfang 1945 zwanzig gro?e Kisten gelagert. Im Schlo? erzahlte man sich, da? sie aus Konigsberg stammten, wie es ja auch auf den Deckeln stand: Wasserbaubehorde Konigsberg, aber da? sie nichts mit einer Behorde zu tun hatten, sondern das beruhmte Bernsteinzimmer enthielten. Und weiter erfuhr Wachter von der Kochin, da? die Kisten spater in das weitverzweigte unterirdische Bunkersystem des

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