Patente, Archive oder Bibliotheken suchte, sondern auch untergetauchte, versteckte, unter falschem Namen lebende Kriegsverbrecher. Ein solcher Mann will gehen, wirft seine Aufgabe hin?

Captain Silverman wurde nach Washington befohlen. Am 3. August flog er nach Amerika. Zur Berichterstattung, wie es hie?. Zum Verhor, wie er wu?te. Wachter und Jana hielten es auf Schlo? Kiessheim nur bis zum Juli aus. Sie fuhren, noch immer mit dem alten Adler-Wagen, zuruck zur amerikanischsowjetischen Zonengrenze, uber die von Hitler so geliebte Autobahn Munchen-Berlin, und zeigten den amerikanischen Posten nordlich von Hof ihre Ausweise. Ein Lieutenant nickte, warf mit amerikanischer Unkompliziertheit einen Blick auf die Ausweisbilder, verglich sie mit den Personen und gab den Weg frei.

Auf sowjetischer Seite empfing sie zunachst Mi?trauen, vor allem als Jana auf russisch» Guten Tag, Genossen!«rief. Sie wurden in eine Baracke gebracht, wo ein junger Oberleutnant vor einem Radio sa? und andachtig eine Arie aus der Oper Eugen Onegin horte. Er blickte kurz auf, zeigte auf die Wand, der Posten schob Jana und Wachter an die Bretterwand, und dort standen sie, bis die Arie zu Ende war. Der Oberleutnant drehte das Radio unwillig leiser. Das nachste Stuck war die Ouverture zu Ruslan und Ludmila.

«Woher? Wohin?«fragte er im Befehlston.

«Von Salzburg nach Berlin, Genosse Oberleutnant«, antwortete Wachter auf russisch.

«Warum?«

«Deswegen. Lesen Sie — «

Wachter entfaltete das viersprachige Papier und legte es dem Offizier auf die Tischplatte. Die Wirkung war verbluffend. Mit einem kurzen Blick erfa?te der Oberleutnant die vielen Stempel auf dem Papier, drehte sofort das Radio aus, blickte e-staunt zu Jana und Wachter und beugte sich uber das Schreiben. Die Wunderkraft der Stempel wirkte. Je mehr Stempel auf einem Papier, um so ehrfurchtsvoller wird ein

Russe. Ein Stempel kommt von einem Amt, und je mehr Amter gestempelt haben, um so wichtiger mu? die Person sein.»Seien Sie willkommen, Genossen«, sagte der Oberleutnant nach der Lekture des Briefes.»Naturlich konnen Sie sich frei bewegen, wohin Sie wollen. Das Bernsteinzimmer suchen Sie? Ich habe davon schon gehort, von dem Zimmer, in der Armee-Zeitung stand es, die Faschisten haben es gestohlen. Was diese Hunde nicht alles gestohlen haben, nicht wahr, Genossen?! Bekommen wird jetzt alles wieder?«

«Wer wei? das?«Wachter nahm das Papier wieder an sich, faltete es und steckte es ein.»Wir konnen weiterfahren?«»Wohin Sie wollen. Genosse. «Der Oberleutnant lachte jungenhaft.»Von mir aus bis Sibirien.«

«Vielleicht spater«, sagte Wachter trocken.»Froh werden wir sein, wenn wir mit dem alten Wagen von Berlin aus Leningrad erreichen.«

«Nach Leningrad wollt ihr, Genossen? Welch ein Weg!«

«Wir sind von Leningrad bis hierher gekommen, dann geht's auch zuruck. Genauer gesagt: Puschkin ist das Ziel.«

«Dann gute Fahrt, Genossen. «Der Oberleutnant gab Jana und Wachter die Hand Einen langen Blick warf er uber ihre schabige Kleidung. Einen Beauftragten mit so vielen Stempeln stellte man sich anders vor.»Wer unterstutzt Sie eigentlich?«»Sie, Genosse Oberleutnant, zum Beispiel. «Jana lachte ihn an.»Wir brauchen Benzin, Motorol, Brot, Butter, Marmelade, Wurst, Buchsenfleisch, Gurken, Zwiebeln…«

«Geraucherten Stor und Kaviar vom Asowschen Meer…«»Auch gut, Genosse.«

«Einen Schein stelle ich aus«, sagte der Oberleutnant und bremste seine Heiterkeit ab.»Den legen Sie dem Stadtkommandanten von Saalfeld vor. Er wird Ihnen Lebensmittelkarten geben, damit konnen Sie uberall einkaufen oder in einem Hotel und einem Restaurant essen, wenn Sie ein offenes finden.«»Es ware praktischer, von Lager zu Lager der Roten Armee zu fahren und dort zu essen.«

«Versuchen Sie es, Genossen. «Der Oberleutnant grinste verlegen.»Sie kommen von den Amerikanern, sind verwohnt, nicht wahr? Die haben zehnmal mehr zu essen als wir, ihre Verbundeten. «Er hob resignierend die Schultern.»Aber eine Kascha werdet ihr bekommen oder eine Kapusta. Legt schnell die Verwohntheit ab, Genossen. Am fetten Topf degeneriert man zu schnell — «

Zwei Wochen waren sie unterwegs, schliefen in Kasernen oder Feldlagern der Roten Armee, a?en mit den Offizieren, erzahlten vom Bernsteinzimmer. In Berlin bekamen sie von der Zentralstelle der sowjetischen Verwaltung neue, richtigsitzende Kleidung. Einmal hielt Wachter im Offizierskasino von Karlshorst einen Vortrag uber Puschkin, den KatharinenPalast und das Bernsteinzimmer, was ihnen einen anderen Wagen einbrachte, einen Beutewagen Marke Horch, ein geradezu luxurioses Fahrzeug, mit sowjetischer Militarnummer. Noch ein paar Stempel mehr druckte man auf ihr Papier, auf dem jetzt die Namen von vier Generalen und einem Marschall der Sowjetunion prangten, und mit dieser Ausrustung setzten sie die Fahrt nach Puschkin fort.

Noch einmal besuchten sie Konigsberg, die fast menschenleere, zerstorte Stadt, den zerbombten Hafen mit den Schiffswracks, das ausgebrannte Schlo? mit den zerborstenen Mauern. Noch einmal stieg Wachter hinunter in den Keller des» Blutgerichts«, wo das Bernsteinzimmer und er alle Zerstorungen uberlebt hatten. An der Au?enwand der Tur hing sogar noch das Hitlerbild, aber man hatte das Gesicht des Fuhrers zerschnitten, und unten am Geschlecht war das Bild aufgeschlitzt. Im Kellerraum standen noch Tisch, Stuhle und das Feldbett, nur die Matratzen und das Bettzeug fehlten, im Schrank das Geschirr und die Bestecke und auch den Ofen hatte man mitgenommen. Es war damals kalt gewesen in Konigsberg, von Januar bis April 1945. Unglaublich, da? alles nur sechs Monate her war seit jenem Januartag, an dem der Transport mit Hauptmann Leyser auf die Flucht geschickt wurde.

Jana Petrowna fuhr zum Krankenhaus. Nur leicht beschadigt war es, an der Pforte sa? ein alter Mann im Kontrollraum, unbekannte deutsche und sowjetische Schwestern eilten durch die Gange, neue Arzte begegneten ihr auf den Fluren und sahen sie fragend an, und dann stand sie in Friedas Zimmer. Nichts hatte sich verandert: Der breite Schreibtisch war da, der Maschinentisch mit der Schreibmaschine, de abgesto?enen Aktenschranke und der abgewetzte Linoleumboden. Nur Frieda war nicht mehr da, eine andere Oberschwester sa? auf ihrem Platz, im gleichen, uberbreiten Stuhl, extra fur Frieda angefertigt, und hinter der Schreibmaschine hockte ein schmales, blasses, junges Madchen mit einem Mausgesicht.

«Ja, bitte?«fragte die Oberschwester, als Jana eingetreten war und sich stumm umschaute.»Sie wunschen?«

«Nichts.«

«Das ist etwas Neues.«

Das Mauschen an der Schreibmaschine hob den Kopf und grinste verlegen.

«Wo ist Oberschwester Frieda Wilhelmi?«

«Das wei? ich nicht. Ich kenne sie nur aus den Unterschriften in den Akten. Als ich hier anfing, war sie weg. Wohin? Keine Ahnung.«

«Wann haben Sie hier angefangen?«

«Am 15. April… sechs Tage nach der Kapitulation von Konigsberg.«

«Und Dr. Pankratz?«

«Ist am 2. April bei einem Bombenangriff gefallen.«

«Und von Frieda keine Spur?«

«Keine. Ich wei? gar nichts. Wer sind Sie denn?«

«Ich habe dort — «sie zeigte auf den Platz an der Schreibmaschine — «gesessen und… und wurde dann versetzt.«

«Tut mir leid. «Die Oberschwester zuckte mit den Schultern.»Damals sind so viele Menschen in Konigsberg spurlos verschwunden oder als unbekannte Tote begraben worden. Die Russen schossen ja fast pausenlos in die Stadt. Wer da auf der Stra?e erwischt wurde… ein namenloser Toter mehr. Es war die Holle.«

«Danke. «Jana nickte der Oberschwester zu. Ihre Kehle war trocken und wie geschwollen.»Danken wir Gott, da? jetzt alles vorbei ist.«

Sie verlie? Friedas Zimmer, lehnte sich drau?en an die Flurwand und weinte. Niemand blieb stehen und fragte. Man hatte in Konigsberg immer Grund, zu weinen… denn ein Konigsberg gab es nicht mehr.

Am 3. August, dem Tag, an dem Captain Silverman nach Washington abflog, lag Puschkin vor ihnen… die breite, von hohen Baumen gesaumte Zufahrt des Katharinen-Palastes. Eine zerstorte Fassade, eingesunkene Dacher, zerbrochene Mauern.»Mein Gott«, sagte Wachter leise und faltete die Hande.»Mein Gott — «

In einigen der mehr oder weniger beschadigten Prunkraume war ein Kommando der Roten Armee untergebracht worden, um den Katharinen-Palast zu bewachen. Auch wenn man bekanntgegeben hatte, da? jeder, der etwas aus dem Palast mitnahm, als Plunderer betrachtet und sofort erschossen wurde, so sicher war

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