erkennen geben. Was geht einen Fremden die Verwalterwohnung an?«

«Recht hast du, Janaschka, wie immer. Man mu? sich das uberlegen, sehr uberlegen.«

Die breite Treppe gingen sie hinauf, ganz langsam, als wollten sie Stufe um Stufe genie?en oder Abschied nehmen. Dann standen sie vor der Haupttur des Bernsteinzimmers, die Dr. Findling 1941 als fehlend reklamiert und ausbauen hatte lassen. Jetzt hatte man eine einfache Brettertur eingehangt, nur mit einer alten Klinke und ohne ein Schlo?. Was sollte man auch abschlie?en? Die kahlen Wande? Was gibt's in einem leeren Raum zu stehlen?

Trotzdem druckte Wachter mit sichtbarer Ehrfurcht die Klinke herunter, offnete die Tur und trat in das Zimmer ein. Jana lie? ihn vorangehen und folgte ihm erst nach einer Minute, blieb an der Tur stehen und atmete kaum.

Wachter stand in der Mitte des Raumes, die Hande auf dem Rucken, so wie er Jahrzehnte da gestanden hatte, allein oder mit einer Gruppe Besucher. Er stand im Zimmer, als leuchteten noch von den Wanden die Bernstein mosaike, als blitzten die Sockel und Paneele, die Girlanden und geschnitzten Kopfe, die Engel und die Masken, die venezianischen Spiegel und eingelassenen Gemalde.

Das wertvolle Intarsienparkett aus den verschiedensten Holzern und mit Perlmutteinlagen, vielleicht einer der schonsten Fu?boden der Welt, war noch, bis auf einige aufgebrochene Stellen, erhalten. Der neue Verwalter oder wer auch sonst hatte sauberes Sagemehl daruber schutten lassen. Mit den Schuhspitzen schabte Wachter eine kleine Flache frei und spurte das Gluck, diesen Boden wieder unter seinen Fu?en zu haben. Auch die Deckengemalde waren noch vorhanden und unversehrt. Gepflegt waren sie, das sah er sofort, vorsichtig abgewaschen und vom Staub befreit. Es fehlten nur die Wande, die verschwundenen zwanzig Kisten mit dem BernsteinWunder, und er, Michael Wachter, hatte wieder hier stehen konnen und in russisch oder in deutsch sagen konnen:»Liebe Genossen, meine Damen und Herren. Was Sie hier sehen, werden Sie nie wieder und nirgendwo sonst sehen: das Bernsteinzimmer… das eingefangene Gold der Sonne…«

Nein, er wurde es nie wieder sagen. Das Bernsteinzimmer war verschollen, und ein neuer Verwalter hatte das Wachtersche

Erbe ubernommen. Vorbei war alles, Vergangenheit, Historie. Es war der Augenblick, in dem Wachter wu?te, da? er ein alter Mann war. Ein Mensch von gestern.

Nur eins blieb ihm noch: die Suche nach dem Bernsteinzimmer.

Ganz langsam drehte er sich um sich selbst, schlo? die Augen und sah vor sich die Wandtafeln, wie sie 230 Jahre lang dagewesen waren. Sogar das kleine Loch sah er, das Fjodor Fjodorowitsch, der Urahne und erste Wachter fur das Bernsteinzimmer, am 26. Januar 1725 hinterlassen hatte, als er den kleinen Engelskopf aus dem Getafel brach, um ihn Zar Peter dem Gro?en mitzugeben in die Ewigkeit.

Ein Anblick war's, der Jana den Atem stocken lie?. Sie horte nicht, da? jemand die Treppe heraufgekommen war, sie merkte nicht, da? neben ihr die Tur aufging, da der Turflugel diese verdeckte, und jemand ins Zimmer kam. Aber dann wurde sie zerrissen wie von einer Explosion, an die Wand mu?te sie sich lehnen, krallte die Fingernagel in den brockelnden Verputz und spurte keinen Herzschlag mehr.

Neben ihr, in der Tur, erklang ein Aufschrei. Ein so wilder, das Herz zerrei?ender Aufschrei, der auch ihr Blut fast erstarren lie?.

«Vater! Vater! O mein Gott — Vater!«

Wachter stand starr und schwankte. Die Gestalt in der Tur sturzte zu ihm, fing ihn auf, druckte ihn an sich, schlug die Arme um ihn, vergrub sein Gesicht am Hals des alten Mannes und rief wieder:»Vater! Vater!«

Und seinem Aufschrei folgte endlich, endlich der zitternde Schrei des Alten:

«Nikolaj! Kolka! Kolka! Mein Sohnchen… mein Sohnchen.. «Und dann sank Wachter in sich zusammen, nur noch gehalten von den Armen seines Sohnes, und er weinte, weinte, lie? sich auf die Knie fallen, faltete die Hande und hob sie empor zum Himmel, und die Tranen uberstromten sein Gesicht, liefen in seine zitternden Lippen, sagen wollte er etwas, irgend etwas sagen, Nikolaj oder danke, danke, Gott. Und er sah seinen Sohn an, dieses reifer gewordene Gesicht, einen kurzen Bart trug er, aber er hatte noch die blonden Locken seiner Mutter, ihre blauen Augen. Sein Sohn, sein Sohn, nicht im Grabe lag er, er sah ihn, er fuhlte ihn, seine Hande, seinen Atem. Nebeneinander knieten sie am sagemehlbestreuten Boden, hatten die Arme umeinandergeschlungen und ku?ten sich und zerflossen im Gluck und fanden keine anderen Worte mehr als Sohnchen und Vater…

Noch immer knieten sie am Boden und hielten sich umfangen, als Nikolaj mit zitternder Stimme fragen konnte:

«Vaterchen, was ist aus Jana geworden? Hast du etwas gehort von Janaschka…«

Da erst begriff Wachter, da? Jana hinter dem offenen Turflugel stand, hob den Arm und zeigte stumm uber Nikolajs Schulter. In diesem Augenblick stie? sie sich von der Wand ab. Auch sie brach in einen hellen, zitternden Schrei aus.»Nikolaj, mein Liebling, mein Herz, mein Himmel!«schrie sie, sturzte auf ihn zu mit ausgebreiteten Armen und fiel dem Aufspringenden an die Brust.

«Nun endlich ist Frieden«, sagte Wachter und hatte seine Stimme wieder in der Gewalt. Uber die Kopfe Janas und Nikolajs streichelte er und wunderte sich, da? vorhin sein Herz nicht einfach zersprungen war.»Nun sind wir wieder zusammen.«

«La? uns ein Weinchen trinken. «Nikolaj legte seine Arme um Jana und seinen Vater.»Gefunden im Keller habe ich noch zwanzig Flaschen. Stellt euch das vor. Freuen wirst du dich, Vaterchen. Der Tisch und die Stuhle sind noch da, und auch dein geliebtes geschnitztes Sofa. Eigentlich ist alles so wie fruher, wenn man nicht aus den Fenstern schaut.«

Es war das zweite Mal, da? Wachter seinen Kopf an die Schulter seines Sohnes legte.

«Du… du bist der neue Verwalter?«fragte er mit pfeifendem Atem.

«Selbstverstandlich, Vaterchen. Ein Wachter gehort hierher! Gibt's etwas anderes? Sofort nach der Befreiung Puschkins bin ich zuruckgekommen. Aufgeraumt habe ich und in hundert Richtungen nach euch gefragt. Verschollen sind sie, hie? es uberall. Aber ich habe immer gehofft und gehofft…«

«Mein tapferes Sohnchen…«Wachter bi? die Lippen zusammen, um ein neues Schluchzen nicht freizulassen. Und dann sagte er wie eine Anklage gegen sich selbst:»Ich habe das Bernsteinzimmer verloren. Bei ihm war ich, bis der Luftangriff kam. Getrennt haben sie mich von ihm, und ich wu?te es nicht.«

«Seine Schulter haben sie ihm zerschossen, Kolka. In ein Lazarett habe ich Vaterchen gebracht, sonst ware er gestorben. «Jana Petrowna sah Nikolaj wie um ein Urteil bittend an.»War's ein Fehler, Nikolaj? Hatte ich bei dem Zimmer bleiben mussen? Vaterchens Leben war mir mehr wert in diesen Stunden. Meine Schuld ist's.«

«Alles war richtig, Janaschka.«

«Und diese Wande — «Wachter machte eine weite Handbewegung, — «bleiben kahl! Aber eine Spur gibt es, eine Spur… Sohnchen.«

«Wir werden alle sammeln, Vater. Wir werden das Bernsteinzimmer wiederfinden. Nun kommt, la?t uns den Wein trinken… die Kehle ist mir pulvertrocken, geweint haben wir, da? wir ausgeleert sind.«

Die Arme um die Schultern gelegt, gingen sie hinuber zum Verwaltertrakt und betraten die Wohnung. Wie fruher war es, vor dem Sofa stand ein kleiner Hocker, auf den Wachter seine muden Beine legte, wenn er von den Schlo?fuhrungen zj-ruckkam.

«Zu Hause«, sagte er, zog den Rock aus, setzte sich auf das Sofa, streckte die Beine aus und legte sie auf den Hocker.»Kinderchen, ich bin zu Hause. Wenn ich jetzt mein Pfeifchen hatte…«

«Auch die ist da. «Nikolaj lachte, holte aus dem Schrank die alte gebogene Pfeife und hielt sie Wachter hin.»Nur der Tabak, Vaterchen, ist schlechter geworden.«

Ein Sommerabend in Puschkin… wie ein roter Ball versank die Sonne im Park.

Die schonsten Plane sind abhangig von den Gegebenheiten.

Man kann nicht ein volles Netz Fische aus dem Meer ziehen, wo keine Fische sind; man kann eine geliebte Frau nicht in seine Arme ziehen, wenn sie nicht will; man kann kein Haus bauen, wenn man kein Grundstuck hat, auf dem es stehen soll, und man kann nicht kreuz und quer durch Deutschland ein Bernsteinzimmer suchen, wenn die staatlichen Organisationen andere Dinge fur wichtiger halten.

Die Sonderkommission fur die Ruckfuhrung geraubter Kulturguter in Moskau war zwar gegrundet worden, eine Au?enstelle wurde in Leningrad eingerichtet, ein Berg von Dokumenten wurde gesammelt, aber sie fuhrte ein Schattendasein im allgemeinen gro?en Aufbau des zerstorten Landes. Die Deutschen waren zwar besiegt, sie hungerten jetzt, raumten ihre Ruinenstadte auf, aber die Behorden arbeiteten wieder und ein ungeheurer Lebenswille durchzog das Land. Sogar demokratische Parteien wurden gegrundet, Namen wie Adenauer, Schumacher, Hundhammer und Heuss tauchten auf, das zerstorte Deutschland pumpte sich wieder mit Leben

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