man sich nicht, da? von den unuberblickbar vielen, dennoch geretteten Kunstschatzen nicht doch eine Kleinigkeit beiseite geschafft wurde. Ein ziselierter Silberloffel, ein handgetriebener silberner Kerzenleuchter, chinesische Prozellantellerchen, eine kleine Vase, ein assyrisches Glas, eine goldene Tabatiere… es gab so viele Dinge, die man in eine Hosentasche stecken oder unter einer Mutze mitgehen lassen konnte.

Nach der Zerstorung des Schlosses und dem Ruckzug der deutschen Truppen am 15. Januar 1944 aus Puschkin hatten vor allem die eingesetzten Puschkiner Frauen die Trummer weggeraumt. Feuerwerkertrupps der Roten Armee durchsuchten Schlo? und Parks nach Blindgangern, versteckten Bomben und Sprengsatzen, und eine Kommission von Kunstexperten besichtigte die Palaste des ehemaligen Zarskoje Selo und stellte fest, da? die Deutschen sachverstandig und grundlich gestohlen hatten. Was man nicht vorher schon nach Leningrad in Sicherheit gebracht hatte, war verschwunden oder zerstort… nur wenige Teile waren gering genug beschadigt, da? man sie wieder restaurieren konnte.

Aber dafur war jetzt keine Zeit. Auch nicht im Jahre 1945, dem

Jahr des Sieges. Es galt, die zerstorten Stadte und Dorfer aufzubauen, die Landwirtschaft und die Industrie notdurftig in Schwung zu bringen, die Bilanz von Tod und Vernichtung zu ziehen und die Milliarden Rubel aufzubringen, das verbrannte Land wieder zum Bluhen zu erwecken. Die Kunst konnte warten… ein hungernder Mann findet keinen Gefallen mehr an einem Gemalde von Raffael. Zuerst hie? es, Wohnungen bauen… fur die Schlosser war der kommende Frieden lang genug. Auch der Katharinen-Palast war soweit aufgeraumt worden, da? man wieder durch die Raume gehen konnte. Einige der prunkvollen Sale waren sogar mit geretteten Mobeln ausgestattet worden. Standig im Einsatz tatige Putzkolonnen von Frauen aus Puschkin sorgten dafur, da? etwas Sauberkeit den einstigen Glanz des Palais ahnen lie? und da? im Winter der Frost nicht noch mehr zerstorte. Ein Verwalter uberwachte alle Arbeiten und sortierte vor dem Abtransport der Trummer alles heraus, was man spater fur die Erneuerung noch gebrauchen und einbauen konnte.

Eine ganze Weile standen Wachter und Jana Petrowna vor der zerstorten Fassade, blieben in ihrem Horch-Wagen sitzen und schwiegen erschuttert.

Der Krieg hatte aus Europa ein Ruinenfeld gemacht, Jahrhunderte von Kulturen waren im Granaten- und Bombenhagel vernichtet worden, waren in Brand aufgegangen oder mutwillig in die Luft gesprengt worden — aber war das ein Trost fur Michael Wachter? Das hier war sein Katharinen-Palast, war sein Puschkin, war einst sein Bernsteinzimmer gewesen. Fast 230 Jahre hatte ein Wachter in diesen Raumen gelebt, war dafur geboren worden und dafur gestorben. Zaren und Zarinnen waren gekommen und gegangen, hatten unter dem Gesang der Priester und Monche und dem Gelaut der Glocken ihre Seele ausgehaucht oder waren ermordet worden. Rasputin, der Wundermonch, hatte in Zarskoje Selo seine wilden Saufund Liebesgelage abgehalten und hatte sogar zweimal im Bernsteinzimmer vor dem Zarewitsch gesessen und mit dem Streicheln seiner Hande einen Anfall der Bluterkrankheit des kleinen Alexej aufgehalten. Trotzkij war durch das Schlo? gegangen; Lenin hatte ergriffen im Bernsteinzimmer gestanden und es zum russischen Heiligtum erklart. Stalin hatte sich auf einem Stuhl mitten ins Zimmer gesetzt und sich geduldig, was sonst nicht seine Art war, die Geschichte des Bernsteinkabinetts von Wachter erzahlen lassen, vor allem die Orgien der gro?en Katharina II., die sich oft mit ihrem jeweiligen Geliebten in dem Zimmer eingeschlossen hatte, um sich im Glanze des» Sonnensteines «besonders angeregt zu verlustigen. Immer war ein Wachter zur Stelle gewesen, immer war ein Wachter der Vertraute gewesen, und uber Georgij Ludwigowitsch Wachterowskij hatte Rasputin ein Kreuz geschlagen, wonach er nie wieder krank wurde und im Alter von 101 Jahren friedlich, wahrend des Schlafes, zu Gott einging.

Hatte ein Wachter nicht das Recht, beim Anblick der Trummer seines Schlosses Tranen in die Augen zu bekommen?

So sa?en sie also stumm in ihrem Auto. Jana Petrowna hatte den Arm um Wachters Schulter gelegt, und sie lie? ihm Zeit, sein Inneres zur Ruhe zu bringen. Vom saulengetragenen Eingang in den Park kam ein sowjetischer Major langsam auf sie zu. Er hatte die Mutze in den Nacken geschoben, den Uniformrock aufgeknopft und sogar den Hemdkragen geoffnet. Hier drau?en nahm man es nicht so genau, Kontrollen waren selten, und kam mal ein hoherer Offizier zum KatharinenPalast, dann wurde das vorher rechtzeitig gemeldet, und man konnte sich schnell wieder korrekt kleiden. Es war hei?. Die Augusttage in Leningrad konnen brennen, und dieser Sommer 1945 war besonders hei? und lag schwer uber dem Land.

Der Major betrachtete den gro?en Horch-Wagen, las die sowjetische Militarnummer, sah aber nur zwei Zivilisten im Auto, einen alteren Mann und eine schone, hochst interessante Frau mit hohen Wangenknochen und leicht schrag gestellten Aj-gen. Er zog seine Mutze etwas tiefer in die Stirn, was ihn amtlicher machte, dann trat er an die Wagentur mit der heruntergekurbelten Scheibe heran.

«Haben die Genossen Fragen?«sagte er und sah Jana wohlgefallig an.

Wachter nickte, offnete die Tur und stieg aus. Auf der anderen

Seite tat Jana das gleiche. Tief holte Wachter Atem und stie? mit der Luft den Rest seiner Erschutterung heraus.

«Ich kenne das Palais von fruher«, sagte er.»Kann ich es betreten und mich umsehen?«

«Sie kennen es, Genosse? Sie werden weinen.«

«Ich habe bereits geweint, Genosse Major.«

«Ich kannte den Palast nicht, als ich hierherkam. Aber viele, die ihn jetzt besucht haben und sich erinnerten, haben auch geweint. Was wollen Sie sehen? Nicht alles ist zu besichtigen… es gibt Teile, die sind gesperrt wegen Einsturzgefahr. Nur wenig ist ubriggeblieben. Das meiste liegt noch in Leningrad und wird — so sagt man — erst wiederkommen, wenn das Schlo? wieder aufgebaut worden ist.«

«Ich wei? es. «Wachter blickte zu dem Teil des Schlosses hinuber, den er so gut wie kein anderer kannte.»Das Bernsteinzimmer mochte ich sehen.«

«Weg ist es, Genosse. Gestohlen von den Faschisten! Ein schones Zimmer mu? es gewesen sein.«

«Es gab nichts Schoneres. Ein greifbares Wunder war's. Der Himmel, die Sonne, die ganze Schonheit der Welt, das leuchtende Meer, aus dem der Bernstein kam. Menschen gab es, Genosse Major, die standen vor seinen Wanden, falteten die Hande und beteten. «Wachter holte wieder tief Atem.»Ich mochte es sehen, das Bernsteinzimmer… die leeren Wande…«

«Fragen Sie den Verwalter.«

Durch Wachter zuckte es wie ein Stich. Auch Jana Petrowna spurte eine Beklemmung, begriff Wachters Betroffenheit, kam zu ihm und legte ihm wieder trostend den Arm um die Schultern.

«Einen Verwalter gibt es?«fragte Wachter.»Es gibt wieder einen Verwalter?«

«Eingesetzt von der Zentralstelle der Schlosserverwaltung. «Der Major bemerkte die Betroffenheit in den Gesichtern der Besucher und winkte lachelnd ab.

«Ein guter, zuganglicher Mann ist er, Genossen. Wird euch nicht verweigern, das leere Zimmer anzusehen. Hat schon viel aufgeraumt hier im Schlo?. Hat die Putzbrigade und die Maurer fest im Griff. Ohne ihn — «der Major verzog sein Gesicht —»war's hier noch wie vor einem Jahr.«

«Dann gehen wir, Tochterchen. «Wachter blickte wieder hinuber zu den Fenstern des ehemaligen Bernsteinzimmers. Neue Scheiben hatte man eingesetzt und auch die Fensterrahmen erneuert. In die Zimmer stach darum die Sonne wie in offene Hohlen. Wachter gefiel das; auch der neue Verwalter schien das Bernsteinzimmer sehr zu lieben und hatte es als einen der ersten Sale geschutzt. Und als sie die Schlo?halle betraten und der Major zuruckgeblieben war, sagte Wachter:»Verraten wir dem neuen Verwalter nicht, wer wir sind, Janaschka. Reden lassen wir ihn, erklaren soll er uns das Bernsteinzimmer, und wenn er fertig ist, sage ich zu ihm: Genosse, das haben Sie falsch erzahlt und das und das haben Sie vergessen. Fruher war hier ein Michael Wachter, der wu?te mehr… Ein frohliches Stundchen wird's werden.«

«Und nachher willst du nicht sagen, wer du bist, Vaterchen?«»Nein, Janinka. Erst fahren wir weiter nach Leningrad und suchen die Menschen, die Nikolaj gekannt haben. Vielleicht konnen sie uns zeigen, wo sein Grab ist, und wir konnen ihm Blumen bringen.«

«Du glaubst, da? er doch noch gefallen ist?«

«Die letzte Nachricht war vor sieben Monaten. Freunde von Sylvie funkten es aus Leningrad. War's die Wahrheit? Warum von da ab keinen Ton mehr? Abgeschlossen habe ich mit dem Schicksal, der letzte Wachter zu sein. «Er sah die halbwegs erhaltene breite Treppe hinauf, die zum Bernsteinzimmer fuhrte.»Jetzt gilt es Abschied nehmen von 230 Jahren treuen Diensten. «Er atmete tief durch, um Luft fur eine feste Stimme zu bekommen.»Ob der neue Verwalter in unserer Wohnung lebt? Kann ich ihn bitten, sie mir zu zeigen?«

«Wir werden ihn fragen, Vaterchen. Bestimmt wird er dich verstehen. Aber dann mu?t du dich ihm zu

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