voll… wohingegen einer der Sieger — Ru?land — die schrecklichen Wunden des Krieges so schnell nicht schlie?en konnte. Die Verluste an Menschen und Material, uber 12 Millionen Tote allein, waren zu hoch, und man sah sich plotzlich isoliert, denn die Kampfgefahrten von gestern waren zu den politischen Feinden von heute geworden. Die beiden Gesellschaftssysteme — Sozialismus und Kapitalismus — prallten wieder aufeinander. Verbundete im Kampf gegen Hitler-Deutschland ja… aber niemals ein Zusammenleben mit dem Kommunismus. Der Vorhang fiel wieder zwischen Ost und West, der Eiserne Vorhang, Ru?land stand allein in seinem verbrannten Land.

Michael Wachter, Nikolaj und Jana waren nach Leningrad gefahren, waren wie Helden empfangen worden. Es gab zahllose Umarmungen mit den Museumsdirektoren, den Stadtverordneten und Parteifunktionaren, und fur einen Tag war Wachter es wert, in den Zeitungen genannt zu werden, sogar mit Bild und einem Zitat:»Ich werde nie aufhoren, das Bernsteinzimmer zu suchen!«Aber so schnell und grundlich, wie der Wind den Staub vor sich herblast, verwehten auch Wachters Name und sein 24-Stunden-Ruhm.

Die Leningrader Abteilung der Moskauer Sonderkommission horte sich Wachters Bericht an, nahm ein genaues Protokoll auf und zeichnete auf einer Deutschland-Karte den mutma?lichen Weg des Bernsteinzimmers ein: von Konigsberg nach Berlin, von Berlin nach Schlo? Reinhardsbrunn, vom Schlo? in das Bergwerk Kaiseroda II/III bei Merkers in Thuringen, von Merkers, sehr umstritten, nach Frankfurt und auf diesem Wege bei Alsfeld verschwunden. Der Name Fred Silverman wurde rot unterstrichen als der wichtigste Zeuge.

«Sehr interessant das alles, Genosse Wachterowskij«, sagte der Vorsitzende der Sonderkommission nach den langen Gesprachen und Aufzeichnungen. Er war ein Kunsthistoriker, hie? Pawel Leonidowitsch Agajew, hatte standig Hunger, und seine gelblichen Augapfel wiesen auf einen schlechten Zustand von Galle und Leber hin. Wenn er einen Satz von mehr als zehn Worten sprach, begann er zu husteln.»Wir werden das alles nachforschen. Aber im Augenblick…«

«Sie sehen Schwierigkeiten, Genosse Agajew?«fragte Wachter betroffen.

«So ist es, mein lieber Michail Igorowitsch. Gemeinsam haben wir den Krieg gewonnen, aber mit dem letzten Schu? ist auch die Freundschaft wie weggeflogen. «Bitterkeit klang in seiner Stimme, und er hustelte wieder stark.

«Sie sollten die Verbindung zu Captain Silverman herstellen«, sagte Nikolaj. Agajew sah ihn gequalt an.

«Unmoglich. Sag ich's doch… die Freundschaft mit den Amerikanern ist eingefroren. Von ihnen Hilfe? Ha, wie utopisch denken Sie, Genosse! Beteiligung bei der Suche nach dem Bernsteinzimmer? Eher leiten Sie die Lena in die Mongolei! Ist der Kunstschatz in den Handen der US-Army — nicht ein Sil b-chen werden sie verraten, nicht einen Laut. Wer gibt ihn her, solch einen einmaligen Schatz?«

«Er gehort dem russischen Volk. Seit 230 Jahren, Genosse Agajew!«rief Jana Petrowna.

«Und wenn er schon 800 vor Christi Geburt den Skythen gehort hatte… jetzt hat ihn der Amerikaner. «Agajew sah Wach-ter an und klopfte auf das umfangreiche Protokoll.»Wenn alles stimmt, was Sie erzahlt haben, Michail Igorowitsch.«

«Es ist nachprufbar, Pawel Leonidowitsch.«

«Eben nicht!«Agajew zeigte mit dem Daumen auf einen Aktenschrank hinter sich und hustelte wieder.»Alles Spuren von Kunstschatzen. Ein Berg von Vermutungen. Ein Hugelchen von tatsachlichem Wissen. Aber selbst an diesen Maulwurfhaufen kommen wir nicht heran… er liegt im Westen!«»Thuringen und Sachsen gehoren jetzt zur sowjetisch besetzten Zone. «Nikolaj tippte mit dem Zeigefinger auf die Deutschlandkarte.»Und hier konnen wir nachforschen.«

«Mein lieber Genosse!«Agajew stutzte die Stirn in die Hand.»Das hei?t: Hunderte Orte, Schlosser, Depots und Bergwerke aufsuchen. Hunderte verschuttete Keller offnen, gesprengte Stollen aufgraben, unterirdische Gange freischaufeln, Tausende von Personen verhoren, meterdicke Bunkerwande aufrei?en — dafur haben wir jetzt keine Zeit und kein Geld.«

«Keine Zeit fur das Bernsteinzimmer?«Wachter starrte Agajew unglaubig an.»Verhort mu? ich mich haben.«

«Genossen, nur an das Bernsteinzimmer denkt ihr!«rief Agajew gequalt aus.»Denkt daran, da? wir gerade eben erst, vor vier Monaten, den Krieg gewonnen haben und nun flach auf dem Hintern liegen. Die angeblich hungernden Deutschen haben mehr zu kauen als unsere Stadter. Ein Kohlkopf wird bei uns vergoldet, eine Eiche kann man ausstellen wie eine griechische Statue, und eine mit Hackfleisch gefullte Pirogge ist so uppig wie ein Bojarenmahl. «Nach diesem Riesensatz mu?te er heftig husten.»Wo hat da noch ein Bernsteinzimmer Platz, liebe Genossen?«

Es hatte keinen Sinn, weiter mit Agajew zu reden. Die Wachters und Jana Petrowna sahen das ein, gaben dem Genossen Kommissionsvorsitzenden die Hand und standen dann wieder auf der Stra?e. Wohin man auch blickte, was er gesagt hatte, war nicht wegzuleugnen. Uberall standen lange Schlangen von Mannern, Frauen und Kindern, um zu kaufen, was es in diesem Geschaft gerade gab. Was, war zunachst gleichgultig. Es gab etwas. Wenn man Gluck hatte, bekam man es, und wenn man es hatte, konnte man tauschen, es anziehen oder essen. Wichtig war: Es gab etwas.

Ein schoner Spatsommertag war's, sie spazierten ein wenig an der Newa entlang, standen am Ufer vor dem Winterpalais und der Eremitage, gingen zum Dekabristenplatz zuruck und setzten sich auf die Steine des Denkmalsockels.

«Wir sollten es allein versuchen, meine Lieben«, sagte Wachter nach langem schweigendem Nachdenken.»Jananka und ich. Du, Nikolaj, bleibst in Puschkin.«

«Auf gar keinen Fall. Wir drei bleiben zusammen. Nur eine Frage, Vaterchen, wer soll's bezahlen? Kein Ausflug ist's…«»Das wei? ich auch«, knurrte Wachter.»Es kann Monate dauern.«

«Wenn wir uberall gegen Wande rennen, auch Jahre!«sagte Jana realistisch.»Zuerst mussen wir Silverman finden, aber wo? Das Fundament allen Suchens ist Silverman. Die Basis. Allein er wei? mehr als alle anderen, die man fragen konnte.«»Er wird sich melden. Um seine Entlassung hat er nachgesucht. Er hat versprochen, sofort Nachricht zu geben.«»Wohin?«fragte Nikolaj.

«Ich habe ihm die Puschkiner Adresse gegeben. KatharinenPalast.«

«Und du glaubst wirklich, da? dort ein Brief von ihm ankommt?«

«Warum nicht? Einmal ja… fruher oder spater. Es ist doch Frieden.«

«Nein, Vaterchen, falsch siehst du das. «Nikolaj schabte mit den Schuhspitzen uber das Pflaster.»Geschossen wird nicht mehr auf die Deutschen, das ist alles. Jetzt wird mit Schikanen, Verleumdungen, politischem Gift um sich geworfen und die Welt in zwei Teile gespalten. Noch lachelt man sich an, mit sauerlichen Mienen, noch bildet man ein Siegerquartett, um die Geschichte nicht vollig zu verwirren. Aber warte es ab, was in zwei oder drei oder zehn Jahren sein wird. Und schlimmer noch fur uns: Wir sind Deutsche in Ru?land. Wir leben hier wie die Russen, wir sprechen russisch, wir denken russisch, man spricht unsere Namen russisch aus, aber wir sind Deutsche.«»Das hat unser Urahn Friedrich Theodor dem Preu?enkonig geschworen…«

«Die Amerikaner werden den Brief von Silverman an uns kontrollieren, der Brief wird dann von den sowjetischen Behorden zensiert, ehe er zu uns kommt… wenn er dann uberhaupt noch kommt.«

«Nein, kein Brief an mich ist zensiert worden!«sagte Wachter abwehrend.»Jeder Brief an mich ist angekommen!«

«Vor dem Krieg, Vater. «Nikolaj erhob sich und zog Jana von dem Denkmalsockel hoch.»Aber jetzt? Der Krieg hat die Welt und die Menschen verandert… grundlich verandert. Nichts wird mehr so sein, wie es fruher war. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen.«

So schien's zu sein. Das Jahr ging zu Ende… der Genosse Agajew und seine Sonderkommission schwiegen. Ein paar Mal schrieb Wachter hin, aber Antwort bekam er nie. Als das Telefon wieder in Ordnung war, rief er dreimal an. Immer war eine tiefe, murrische Frauenstimme am Horer und sagte:»Ist in Moskau!«oder» Ist in Kiew!«oder» Ist nicht da! Wo er ist? Was kummert's Sie, Genosse?!«

Nach dieser frechen, groben Auskunft lie? Wachter das Telefonieren sein. Er schrieb einen langen Brief an die Zentralkommission in Moskau, aber auch von dort antwortete ihm nichts als Schweigen. Nur von der Museenverwaltung horte er etwas. In Wurdigung seiner Verdienste um den KatharinenPalast und seiner jahrzehntelangen guten Arbeit habe man sich entschlossen, ihm ein ehrenvolles Ruhegeld von monatlich 100 Rubel zu geben, freie Wohnung im Katharinen-Palast und den Orden» Verdienter Arbeiter des Volkes«. Der Stadtsowjet von Puschkin wurde ihm die Medaille uberreichen. Verwalter blieb Nikolaj Michajlowitsch Wachterowskij.

«Hundert Rubel, das ist reichlich«, sagte Wachter, nachdem er den Brief gelesen hatte.»Zusammen mit freier Wohnung… da la?t's sich leben. Aber zu wenig ist's, um auf eigene Kosten das Bernsteinzimmer zu

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×