In den vergangenen elf Jahren Frieden war viel oder wenig geschehen, je nachdem, aus welcher Ecke man es betrachtete und zu welchem Volk man gehorte. Die Stadter standen noch immer Schlange vor den Geschaften. Die Kolchosen und Sowchosen erfullten ihre Planziele, ohne da? der allgemeine Lebensstandard stieg, was so mancher nicht verstand. Aber wer genug Rubelchen besa?, ein paar Hinterturchen kannte und ein paar geheime Quellchen anzapfte, der bekam schon genug Fleisch, Eier, Speck, Krimsekt, Krimwein, grusinischen Kognak und naturlich Wodka, das Wasserchen aller Wasser. Auch Mehl hatte man, Grie?, Grutze, Zwiebeln, Gurken wie Pilze, gesauert oder gesalzen und getrocknetes oder konserviertes Obst… Genossen, was will man mehr von dieser Welt als gut essen, gut saufen und gut schlafen neben einem warmen Frauen-korperchen! Brauchen wir den Luxus der Kapitalisten? Franzosische Mode und Parfums? Englisches Golf? Oder amerikanische Steaks und Hollywood? Einen deutschen Mercedes oder Urlaub auf Mallorca? Hebt euer Glaschen, Freunde — in zehn Jahren sieht's noch besser aus. Der Welt konnen wir das gro?te Geschenk uberhaupt machen: Zeit. Zeit, Genossen, haben wir genug…

Nikolajs Idee war es gewesen, die Festtafel im leeren Bernsteinzimmer aufzustellen. Die rohen, beraubten Wande hatte man mit gelbem Stoff bespannt, im Licht von vielen Gluhbirnen strahlte das Deckengemalde und leuchtete der einmalige Parkettboden. Vaterchen Michail sa? vorn am Kopf der Tafel, und neben ihm sa?en seine Enkel Peter und Janina, Janas Kinder, die sie vor neun und sieben Jahren bekommen hatte. Eine schone, reife, viel bewunderte Frau war sie geworden, nun vierunddrei?ig Jahre alt, schlank geblieben und doch mit begehrten Rundungen, dort wo sie hingehorten, und wenn sie lachte und sich dabei zuruckbog und Bluse, Kleid oder Pullover sich spannten, wurde Nikolaj, man gestehe es offen, von allen anderen Mannern beneidet.

Eine gro?e Uberraschung erlebte Wachter an diesem Abend, als nach dem Essen eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau auf ihn zutrat, man konnte sie auf drei?ig schatzen, und sich als Wassilissa Iwanowna Jablonskaja vorstellte.

«Ein schones Geschenk bringe ich Ihnen mit aus Moskau«, sagte sie mit einer warmen Altstimme.»Mich — «

«Wie exklusiv!«lachte Wachter und hob sein Glas.»Willkommen, Wassilissa Iwanowna… aber bedenken Sie, heute bin ich siebzig geworden. Was wollen Sie mit mir noch anfangen?«

«Ihren Lebenstraum vollenden. «Sie machte eine kleine Pause und sagte dann feierlich:»Von der Zentralkommission in Moskau soll ich Ihnen mitteilen, da? die Suche nach dem Bernsteinzimmer wiederaufgenommen wird. Ich bin die Leiterin der Sonderkommission. Wir werden zusammenarbeiten, Michail Igorowitsch.«

Da stie? der alte Wachter einen Jauchzer aus wie ein Bayer, drehte sich einmal um sich selbst und warf sein Glas gegen die Wand.

Und alle Gaste lachelten und dachten: Na, Alterchen, geht dir der Wodka zu schnell ins Hirnchen? Und viele Glaser flogen seinem Glas nach.

Nicht in Moskau, sondern letztlich in Peking war Fred Silverman gelandet, immer noch weitab vom Schu?. General Walker, seit drei Jahren in Pension, hatte seinen problematischen Major zunachst tatsachlich nach Neuseeland geschickt, auf einen Posten, wo er vollig kaltgestellt war. Gema? der uralten, aber immer wieder sich bestatigenden Wahrheit, da? die Zeit alle Spuren verwischt, gibt es nach zehn, zwanzig oder drei?ig Jahren kaum noch Erinnerungen, die man auswerten kann, oder die meisten Zeugen sind gestorben. So wurde Silverman ans andere Ende der Welt versetzt, und um ihm ein wenig Abwechslung zu gonnen, lie? man ihn spater nach Peking umziehen, das fur einen Kunsthistoriker wie ihn ein uberwaltigendes Erlebnis war. Die in den deutschen und osterreichischen Salzbergwerken eingelagerten und entdeckten Kunstschatze der Nazis schnitt man damit aus seinem Leben heraus.

Viel Informationen fur die Offentlichkeit gab es sowieso nicht, die wechselvolle Geschichte des Kunstraubes wurde totgeschwiegen. Nur einmal sickerte eine Bemerkung durch, als der damalige Leiter des Central Collecting Point Wiesbaden, Mr. Walter Fermer, voller Verbitterung sagte:»Wir konnten es nicht fassen, da? wir Amerikaner uns nun anschickten, genau das zu tun, was Hitler getan hatte. Wir waren dabei, Bilder aus dem Besitz eines anderen Landes in >Sicherheitsgewahrsam< zu nehmen. Das Besondere dieser Auswahl aber war: Die Zusammenstellung der Bilder sollte die Lucken in amerikanischen Sammlungen fullen.«

Auch private, unbekannte Sammlungen profitierten davon, und in den Tresoren von Kunstliebhabern oder einfach Kapitalanlegern stapelte sich Kunst. So verschwanden unter amerikanischer Besatzung spurlos weltberuhmte Kunstwerke aus den Berliner Museen, die vor allem im Salzbergwerk Grasleben ausgelagert worden waren. Das erste, was vom amerikanischen Geheimdienst beschlagnahmt wurde und danach verscholl, waren fast alle Lagerlisten mit den genauen Angaben. Erst viele Jahre spater gelang es, eine Reihe der fehlenden Kunstwerke zu benennen. Verschwunden waren der» Schatz des Priamos«, die Goldkiste der agyptischen Abteilung, 80 Steinskulpturen der indischen Sammlungen, 34 Kisten unersetzbarer ostasiatischer Kunst, 50 Kisten mit anderen Skulpturen, 330 antike Vasen, beruhmte Gemalde wie Menzels» Tafelrunde in Sanssouci «oder der bewunderte» Knabe aus Naxos«, Inbegriff griechischer Schonheit und Harmonie.

Diese Schatze und noch viel, viel mehr hatten nicht, wie immer wieder laut behauptet wurde, die Russen als Beutegut ao-transportiert, sondern waren im Westen unter amerikanischer Besatzung verschwunden.

Merkwurdiges geschah dann in den folgenden Jahren nach dem Krieg: Die deutschen Museumsbeamten und Abteilungsleiter der Berliner Museen, die das Ende des Hitler-Reiches uberlebt hatten und die nun darangegangen waren, nach dem Verbleib der Kunstschatze zu forschen, die mit den letzten Transporten aus Berlin am 6. und 7. April 1945 nach Grasleben und Merkers geschafft worden waren, dezimierten sich auf ratselhafte Weise.

Der Leiter der Antikenabteilung wurde mit einer harmlosen Blinddarmreizung in ein Krankenhaus eingeliefert, operiert, die Wunde verheilte gut, er fuhlte sich gesund und kraftig, aber an dem Tag, an dem er aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, starb er plotzlich. Die schnelle Diagnose: Darmkrebs. Vier Tage spater schluckte der Chef der Skulpturenabteilung, die am meisten gelitten hatte, eine todliche Dosis Zyankali, nachdem er eine Liste der fehlenden Exponate angefertigt hatte. Die Liste wurde nie gefunden, nur der Tote.

An seinem Schreibtisch wurde der Leiter des Volkerkundemuseums erschossen aufgefunden. Selbstmord hie? es, wie bei dem Zyankalitoten. Aber weshalb Selbstmord? Es gab nicht den geringsten Grund dafur.

Plotzlich starb im Sommer 1945 auch der Restaurator der Gemaldegalerie. Herzschlag, hie? es. Aber niemand konnte sich daran erinnern, da? er jemals uber Herzbeschwerden geklagt hatte — er war ein gesunder Mann gewesen.

Und spurlos verschwand auch ein anderer Restaurator der Nationalgalerie, der am 7. April eine genaue Liste aufgestellt hatte, ein Inventarverzeichnis der ausgelagerten Gemalde.

Und der Mann, der diese Aufzahlung von Merkwurdigkeiten und Ratseln zusammengestellt hatte, war spater nicht mehr bereit, daruber zu sprechen. Freunde flusterten sich zu, er habe Angst, Todesangst.

Und die Zeit, die Jahre breiteten einen Schleier des Verges-sens uber alle Mutma?ungen und uber alle Wahrheiten. Silverman im fernen Peking hatte dieses umfangreiche Material gesammelt. Er war nun vierundvierzig Jahre alt, Botschaftsrat, und konnte einem angenehmen Lebensabend entgegensehen. Uber das Bernsteinzimmer sprach er seit zehn Jahren nicht mehr, es galt als verschollen und verloren, seitdem es angeblich im Bergwerk von Merkers gelagert haben sollte. Das Verschwinden der drei Trucks mit zwanzig Kisten und der Tod des armen Noah Rawlings, diese Blamage der US-Transportstaffel, wurden grundlich vergessen. Ein unglucklicher Zwischenfall im Krieg wie tausend andere — das war's. Wozu daruber gro?e Worte? Silvermans damalige Berichte wurden in die Tresore des OSS verbannt und waren damit fur alle Zeiten uneinsehbar. So vieles ist verlorengegangen, wie viele Stadte waren nur noch rauchende Ruinen… wer regte sich da uber ein Zimmer aus Bernstein auf?! Leute, so etwas braucht man nicht zum Leben. Seht euch an, was nach einem verlorenen Krieg moglich ist: das deutsche Wirtschaftswunder! Das ist wichtig: ein starker Block gegen den Osten! Silverman pa?te sich dem neuen Denken an, wenn auch nur als Tarnung. Das Bernsteinzimmer war lein Gesprachsstoff mehr, und nach der Pensionierung von General Walker kam ein Nachfolger an die Spitze des OSS, dem Silverman kein Begriff mehr war und der die interne Geschichte des Diplomaten im Fernen Osten nicht kannte.

Silverman selbst sah eine gro?e Chance in diesem Wechsel. Zunachst schickte er ein Gesundheitsattest des Botschaftsarztes nach Washington. Der Arzt, Dr. Humbert Seyko-none, ein Halbjapaner, hatte viele Gesprache mit Silverman gefuhrt, bis dieser ein so gro?es Vertrauen zu ihm fa?te, da? er ihm vom Bernsteinzimmer erzahlte. Seykonone, im Herzen ein Japaner, erinnerte sich daran, was amerikanische Truppen damals von den von ihnen besetzten japanischen Inseln aus Tempeln, Grabanlagen und Heiligtumern weggeschleppt hatten, gab Silverman die Hand und sagte:»Ich werde Sie krank schreiben, Fred, Ihr Gesuch um Entlassung unterstutzen und auch dem Botschafter erklaren, da? ein Mann wie Sie seine Ruhe verdient hat und die letzten Jahre seines Lebens eigentlich

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×