«Das ist am Sudstrand. Bitte, beeilen. Einsteigen!«

Der Gepacktrager hob die Koffer in den Wagen. Den letzten schob er noch hinein, weil der Zug nach einem kurzen Pfiff anfuhr. Sabine warf dem nachrennenden Trager einen Geldschein zu. Sie wu?te nicht, wieviel es war. Als sie in die Tasche griff, war er zwischen ihren Fingern. Der Trager fing den Schein auf. Verblufft starrte er den Schein an, dann ri? er seine Mutze vom Kopf und schwenkte sie gru?end der freigiebigen Dame nach.

Sabine Sacher zwangte sich auf einen schmalen Sitzplatz inmitten schwitzender, frohlich erzahlender, nach Sonnenol riechender

Menschen. Mi?mutig starrte sie hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft der Insel.

Die Wolde-Dunen zogen voruber, die Spitze des Leuchtturmes schob sich hervor, und dann tauchten inmitten von Strandhafer und saftigen Wiesen, sanften Dunen und goldenem Sand die ersten wei?en Hauser auf. Ihre roten Dacher leuchteten in der Sonne. Es war ein fantastisches Farbenspiel, das lustig machte und ferienfreudig.

Vorbei am hohen Kurmittelhaus ratterte das Bahnchen und hielt inmitten des Zentrums. Vor dem nahen Kurtheater stauten sich die Gaste. Die Luxushotels am Strand lie?en ihre blanken Fenster blitzen. Es war, als habe man die Insel zur Begru?ung der neuen Gaste geschrubbt und gewienert. Selbst das Meer hatte ein Sonntagskleid an. Es war flach, sonnendurchglitzert und trage.

Sabine Sacher sah dies alles nur mit halbem Verstandnis fur die Schonheit. Sie stand auf dem Trittbrett des Bahnchens und blickte den Hotelboys entgegen, die wieder an der Endstation standen. Ein kleiner Fischerjunge trabte durch das bunte Gewimmel. Uber seinem Kopf trug er mit beiden Handen ein gro?es Schild. >Seeadler<. Neben ihm trabte ein anderer Junge. Auf seinem wei?en Schild an einer Holzlatte leuchtete es: >Seeschwalbe<.

Sabine winkte dem ersten Jungen zu und sprang vom Trittbrett.»Hierher!«rief sie.»Hierher!«

«Zu uns?«fragte der Junge und holte sein Schild ein.»Ihr Name?«

«Sabine Sacher.«

Der Junge zog aus der Hosentasche eine zerknitterte Liste und fuhr mit seinem Zeigefinger die Namenkolonnen hinab. Dann nickte er und steckte das Papier wieder in die Hosentasche.

«Stimmt. «Er lachelte verzeihend zu Sabine.»Ich soll namlich vorsichtig sein, sagt der Portier. Wir sind fur zehn Wochen total ausverkauft.«

Er nahm Sabines Koffer, lud sie auf einen kleinen, flachen Handwagen, spannte sich wie ein Kuli in die Deichsel und rannte vor ihr her, dem Sudstrand zu, der irgendwo hinter den gro?en wei?en Steinklotzen der Hotels liegen mu?te.

Die Pension >Seeadler< war sehr gut, burgerliche Kuche< versprach ein gro?es Schild, aber wer die ausgehangte Speisekarte las, mu?te sich sagen, da? das deutsche Burgertum ungemein wohlhabend sein mu?te. Der Portier kam aus der Tur, als der moderne Kuli schwitzend, aber frohlich grinsend hielt. Sogar ein Geschaftsfuhrer im schwarzen Anzug zeigte sich in der Tur und reprasentierte allein schon durch seine Erscheinung und sein Vorhandensein.

Dann stand Sabine Sacher in ihrem Zimmer, das sechs Wochen lang ihre neue Heimat sein sollte. Eine Klause des Nachdenkens, der Sehnsucht nach Peter, der Lauterung und des endgultigen Entschlusses, wie es weitergehen sollte.

Es war ein gro?es Zimmer mit zwei Betten. Das zweite Bett kam Sabine wie ein Hohn vor, wie eine sechs Wochen lange Qual. Wer 42 Nachte neben einem leeren Bett schlafen mu? und es anders haben konnte, braucht starke Nerven, dies durchzustehen. Es war eine Selbstkasteiung.

Ein breites Fenster bildete die Wand zum Meer hin. Bunt karierte Gardinen hingen davor, zugezogen, damit die Hitze nicht in den Raum flutete. Sabine zog sie zuruck. Vor ihr breitete sich der wei?e Sandstrand aus, bespickt mit Strandkorben und gestreiften Strandzelten.

Sabine drehte sich weg und betrachtete das Zimmer. Ein gro?er Doppelschrank, doppelte Waschbecken, um einen runden Tisch zwei Sesselchen, das Doppelbett, doppelte Nachttischlampen, doppelte Handtucher, Zahnglaser, doppelte Bettvorleger, doppelte Speisekarten fur den Abend, alles doppelt.

«Hier werde ich verruckt«, sagte Sabine leise und setzte sich auf das Bett.

Ihr Blick fiel auf einen handgemalten Spruch, der neben der Tur hing. Es war eine Holzscheibe, auf die man geschrieben hatte:

Des Lebens ganze Wurze ist, da? du mal froh und lustig bist.

Sie sprang auf, ri? die Gardine zuruck und stie? die breiten Fensterflugel weit auf. Der warme Seewind blies ins Zimmer und zerzauste ihre Haare. Sie beugte sich hinaus, tief atmend, als ersticke sie in diesem Zimmer, in dem alles doppelt war.

Dort unten ist der Strand, dachte Sabine. Dort springen sie herum, braun, lebenslustig, fern aller Sorgen, ganz Kinder in Gottes Hand. Ihr Lachen ubertont das Brausen des Meeres; die Buntheit ihrer Balle und Badeanzuge sind wie Tupfen auf einer riesigen Leinwand. Und ich stehe hier am Fenster, starre wie ein Strafling hinab in das Leben und warte, warte.

Warten? Auf was eigentlich? Auf ein Wunder? Es gibt keine Wunder mehr. Fruher war die Liebe ein Wunder, der erste Ku?, das erste gro?e Erleben, das Gluck, gemeinsam zu sein. Aber dann kam der Alltag, und in einer siebenjahrigen Ehe gibt es keine Wunder mehr. Vielleicht nur noch eins, wurde Peter in seinem bitteren Sarkasmus sagen: Das Wunder, da? alles sieben Jahre lang gedauert hat.

Sabine trat vom Fenster weg und sah zuruck ins Zimmer. Das breite Doppelbett erschreckte sie plotzlich. Zu Hause in Dusseldorf hatte jeder sein eigenes Schlafzimmer. Nie hatten sie daran gedacht, da? ein Haus noch so gro? und weit sein kann, wenn nur die Ehebetten wenig Platz einnahmen. Vielleicht hatte man alles falsch gemacht, von Anfang an. Nicht Ferien von der Ehe waren notig gewesen, um die Tragheit aus ihrem Zusammensein zu schutteln, sondern Ferien in der Ehe mu?ten es sein! Eheferien zu zweit, allein irgendwo in der Einsamkeit, fern aller Telefone und Brieftrager, Zeitungen und Radios. Dort hatte sich vielleicht finden lassen, was sie suchten: sich selbst.

Sabine schuttelte den Kopf. Sie band das Seidenband neu um ihre zerzausten Locken. Nicht daran denken. Hier ist Borkum. Und man ist allein mit einem Doppelbett.

Sie packte die Koffer aus und legte sich dann auf die Daunendecke des Bettes, die Arme unter dem Nacken verschrankt. An der wei?getunchten Decke spiegelte sich die Sonne in bizarren, durch das Gardinenmuster aufgerissenen Formen.

Mudigkeit uberfiel Sabine. Trauer, Einsamkeit, Schmerz, alles druckte sie nieder.

Aber auch Trotz.

Sie begann zu grubeln.

Es gibt erwiesenerma?en auf der Welt nichts Gefahrlicheres als eine grubelnde Frau. Was Helden nicht wagten, was Philosophen nicht erdachten, was selbst Politikern nicht einfiel (gibt es noch eine Steigerung?), das gebiert der Ha? im Hirn einer grubelnden Frau.

Zwischen Melancholie und Weltzerstorung schwingt der Pendel des ratselhaften menschlichen Gemutes. Als Agrippina grubelte, starb Claudius wenig spater an Gift. Das Grubeln einer Dubarry kostete Ludwig den Kopf.

Manner — la?t eure Frauen nie grubeln!

Sabines Grubelei war allerdings einfacherer Natur und frei von zerstorerischen Elementen. Sie dachte nur an Rache.

Es sollte eine absolut weibliche Rache werden, aufgebaut auf die naturlichen Reize, die Gott dem Weibe schenkte.

Peter in Paris, sie in Borkum. Das gleicht sich aus. Wenn er ein Madchen ku?t, ohne da? ihm das Gewissen schlagt, dann durfte auch sie die Lippen spitzen.

Auch auf dieser Insel wird es Manner geben, die zu gerne einer Sabine Sacher nette Worte ins Ohr und unter die Schlafenharchen flustern.

Sie sprang vom Bett hoch und eilte an den Schrank, in den sie gerade ihre Kleider gehangt hatte. Sie zog sich um. In einem Seidenkleid mit gro?em, blutrotem Klatschmohn auf wei?em Grund stand sie dann vor dem Spiegel und drehte sich. Ihre schonen, noch wei?en Schultern lagen frei uber dem rotbordigen Ausschnitt.

Ich habe eine schone Haut, dachte sie. Manches zwanzig Jahre jungere Madchen wurde froh sein, sie zu haben. Es wurde gerne ein paar Jahre hergeben fur diese glatte, reine Haut.

Sie lachte in den Spiegel. Noch etwas verzerrt, aber ihr Mund war schon. Die Lippen glanzten rot.

Peter mu? blind sein, dachte sie gehassig.

Вы читаете Bittersusses 7. Jahr
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×