»Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken«, sagte der Of?zier kurz.

»Marsch, ’runter!«

Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. »Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Ma?.«

Kern spurte den Stahl kuhl an seinen Gelenken. Es war das erste Mal in seinem Leben, da? er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hande.

Drau?en war es fruher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeiautos. Steiner verzog das Gesicht. »Begrabnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?«

Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Stra?e. Gegenuber in den Hausern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Offnungen. Eine Frau kicherte.

Ungefahr drei?ig Verhaftete wurden auf die Wagen gebracht. Es waren offene Polizei?itzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa funfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufalligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, da? man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit polizeilicher Anmeldung – einen Hausdiener, einen Kammerjager und zwei Huren. Die ubrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Fluchtlinge aus Deutschland, Polen, Ru?land und Italien.

»Los, los!« sagte der Offizier zu der Vermieterin. »Sie konnen das alles auf der Wache erklaren. Da haben Sie Zeit genug dazu.«

»Ich protestiere!« schrie die Frau.

»Protestieren konnen Sie, soviel Sie wollen. Vorlau?g kommen Sie mit.«

Zwei Polizisten fa?ten die Frau unter die Arme und hoben sie auf den Wagen.

Der Offizier wandte sich zu Kern und Steiner. »So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.«

»Merci«, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.

Die Autos fuhren los. »Auf Wiedersehen!« kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.

»Schlagt das Emigrantenpack tot!« brullte ein Mann hinterher. »Dann spart ihr das Futter.«

Die Polizeiautos fuhren ziemlich schnell, denn die Stra?en waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Hausern wich zuruck, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten a?en belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus ?achen Blech?aschen.

In der Nahe der Aspernbrucke kreuzte ein Gemuseauto die Stra?e. Die Polizeiwagen bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten uber den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er ?el schrag auf den Kot?ugel, ver?ng sich mit dem Mantel und schlug mit einem trockenen Knack auf das P?aster.

»Anhalten! Hinterher!« schrie der Fuhrer. »Schie?t, wenn er nicht stehenbleibt!«

Der Wagen bremste scharf. Die Polizisten sprangen herunter. Sie liefen zu der Stelle, wo der Mann hingefallen war. Der Chauffeur sah sich um. Als er bemerkte, da? der Mann nicht ?uchtete, fuhr er den Wagen langsam zuruck.

Der Mann lag auf dem Rucken. Er war mit dem Hinterkopf auf die Steine geschlagen. In seinem offenen Mantel lag er da, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie eine gro?e heruntergeklatschte Fledermaus.

»Bringt ihn ’rauf!« rief der Offizier.

Die Polizisten buckten sich. Dann richtete sich einer auf. »Er mu? sich was gebrochen haben. Kann nicht aufstehen.«

»Naturlich kann er aufstehen! Hebt ihn hoch!«

»Gebt ihm einen gehorigen Tritt, dann wird er schon munter«, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte, trage.

Der Mann stohnte. »Er kann tatsachlich nicht aufstehen«, meldete der andere. »Blutet auch am Kopf.«

»Ver?ucht!« Der Fuhrer kletterte herunter. »Da? sich keiner von euch ruhrt!« schrie er zu den Verhafteten hinauf. »Verdammte Bande! Nichts als Scherereien!«

Der Wagen stand jetzt dicht neben dem Verungluckten. Kern konnte ihn von oben genau sehen. Er kannte ihn. Es war ein schmachtiger polnischer Jude mit schutterem, grauem Bart. Er erinnerte sich deutlich des alten Mannes, wie er morgens in aller Fruhe, die Gebetsriemen uber den Schultern, am Fenster gestanden und gebetet hatte, wahrend er den Korper leise hin- und herwiegte. Er hatte mit Garnrollen, Schnurriemen und Zwirn gehandelt und war schon dreimal aus Osterreich ausgewiesen worden.

»Aufstehen! Los!« kommandierte der Offizier. »Wozu springen Sie denn vom Wagen? Zuviel auf dem Kerbholz, wie? Gestohlen, und wer wei? was noch!«

Der alte Mann bewegte die Lippen. Seine Augen waren gro? auf den Offizier gerichtet.

»Was?« fragte der. »Hat er was gesagt?«

»Er sagt, es ware aus Angst gewesen«, erwiderte der Polizist, der neben ihm kniete.

»Angst? Naturlich aus Angst! Weil er was ausgefressen hat! Was sagt er?«

»Er sagt, er hatte nichts ausgefressen.«

»Das sagt jeder. Aber was machen wir jetzt mit ihm? Was hat er denn?«

»Man sollte einen Arzt holen«, sagte Steiner vom Wagen herab.

»Seien Sie ruhig!« schnauzte der Offizier nervos. »Wo soll man denn um diese Zeit einen Arzt herkriegen? Er kann doch nicht solange auf der Stra?e liegen. Nachher hei?t es dann wieder, wir hatten ihn so zugerichtet. Geht ja immer alles auf die Polizei!«

»Er gehort ins Krankenhaus«, sagte Steiner. »Sogar schnell!«

Der Offizier war verwirrt. Er sah jetzt, da? der Mann schwer verletzt war und verga? daruber, Steiner den Mund zu verbieten.

»Krankenhaus! Da nehmen sie ihn doch – nicht einfach so auf. Dazu braucht er doch einen Uberweisungsschein. Ich kann das auch gar nicht allein machen. Ich mu? ihn erst zum Rapport bringen.«

»Bringen Sie ihn zum judischen Krankenhaus«, sagte Steiner. »Da nehmen sie ihn ohne Uberweisungsschein und Rapport. Sogar ohne Geld.«

Der Offizier starrte ihn an. »Woher wissen Sie denn das, Sie?«

»Man sollte ihn zur Rettungsgesellschaft bringen«, schlug einer der Polizisten vor. »Da ist immer ein Sanitater oder ein Arzt. Die konnten dann weitersehen. Damit waren wir ihn auch los.«

Der Offizier hatte seinen Entschlu? gefa?t. »Gut, hebt ihn auf! Wir fahren bei der Rettungswache vorbei. Dann bleibt einer mit ihm da. Verdammte Schweinerei!«

Die Polizisten hoben den Mann hoch. Er stohnte und wurde sehr bla?. Sie legten ihn auf den Boden des Wagens. Er zuckte und offnete die Augen. Sie glanzten unnaturlich in dem verfallenen Gesicht. Der Offizier bi? sich auf die Lippen. »So ein Blodsinn! ’runterspringen, solch ein alter Mann! Los, langsam fahren!«

Unter dem Kopf des Verletzten bildete sich langsam eine Blutlache. Die knotigen Finger scharrten uber das Bodenholz des Wagens. Die Lippen zogen sich allmahlich von den Zahnen zuruck und gaben sie frei. Es sah aus, als lache hinter der geisterhaft verschatteten Maske des Schmerzes jemand anders lautlos und voll Hohn.

»Was sagt er?« fragte der Offizier.

Der Polizist von vorher kniete wieder neben den Alten hin und hielt ihm beim Rattern des Wagens den Kopf fest. »Er sagt, er hatte zu seinen Kindern gewollt. Sie mu?ten jetzt verhungern«, berichtete er.

»Ach, Unsinn! Werden nicht verhungern. Wo sind sie denn?«

Der Polizist beugte sich herunter. »Er will es nicht sagen. Sie wurden dann ausgewiesen. Hatten alle keine Aufenthaltserlaubnis.«

»Das sind doch Phantasien. Was sagt er jetzt?«

»Er sagt, Sie mochten ihm verzeihen.«

»Was?« fragte der Offizier erstaunt.

»Er sagt, Sie mochten ihm verzeihen wegen der Scherereien, die er macht.«

»Verzeihen? Was soll denn das nun wieder?« Kopfschuttelnd starrte der Offizier den Mann am Boden an.

Der Wagen hielt vor der Rettungswache. »Tragt ihn ’rein!« kommandierte der Offizier. »Aber vorsichtig. Und

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