Sie, Rohde, bleiben bei ihm, bis ich telefoniere.«

Sie hoben den Verungluckten hoch. Steiner buckte sich. »Wir ?nden deine Kinder. Wir werden ihnen helfen«, sagte er. »Verstehst du, Alter?«

Der Jude schlo? die Augen und offnete sie wieder. Dann trugen ihn drei Polizisten in das Haus. Seine Arme hingen herunter und schleiften widerstandslos uber das P?aster, als waren sie schon ohne Leben. Nach einiger Zeit kamen zwei Polizisten zuruck und stiegen wieder auf. »Hat er noch etwas gesagt?« fragte der Offizier.

»Nein. Er war schon ganz grun im Gesicht. Wenn’s die Wirbelsaule ist, macht er’s nicht mehr lange.«

»Na ja, halt ein Jud weniger«, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte.

»Verzeihen«, murmelte der Offizier. »So was! Komische Menschen…«

»Besonders in diesen Zeiten«, sagte Steiner.

Der Offizier straffte sich. »Halten Sie’s Maul gefalligst, Sie Bolschewist!« brullte er. »Ihnen werden wir Ihre Frechheiten schon austreiben!«

MAN BRACHTE DIE Verhafteten zur Polizeistation an der Elisabethpromenade. Steiner und Kern wurden die Handschellen abgenommen, dann kamen sie zu den andern in einen gro?en, halbdunklen Raum. Die meisten sa?en schweigend herum. Sie waren gewohnt zu warten. Nur die dicke blonde Wirtin lamentierte unentwegt weiter.

Gegen neun Uhr wurde einer nach dem andern heraufgeholt. Kern wurde in ein Zimmer gefuhrt, in dem sich zwei Polizisten, ein Schreiber in Zivil, der Offizier und ein alterer Polizeioberkommissar befanden. Der Oberkommissar sa? in einem holzernen Sessel und rauchte Zigaretten. »Personalien«, sagte er zu dem Mann am Tisch.

Der Schreiber war ein schmaler, pickliger Mensch, der an einen Hering erinnerte. »Name?« fragte er mit einer uberraschend tiefen Stimme.

»Ludwig Kern.«

»Geboren?«

»Drei?igster November neunzehnhundertvierzehn in Dresden.«

»Also Deutscher?«

»Nein. Staatenlos. Ausgeburgert.«

Der Oberkommissar blickte auf. »Mit einundzwanzig? Was haben’s denn angestellt?«

»Nichts. Mein Vater ist ausgeburgert worden. Da ich damals minderjahrig war, ich auch.«

»Und weshalb Ihr Vater?«

Kern schwieg einen Augenblick. Ein Jahr Emigration hatte ihn Vorsicht mit jedem Wort bei Behorden gelehrt. »Er wurde zu Unrecht als politisch unzuverlassig denunziert«, sagte er schlie?lich.

»Jude?« fragte der Schreiber.

»Mein Vater. Meine Mutter nicht.«

»Aha!«

Der Oberkommissar schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. »Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«

»Man hat uns unsere Passe abgenommen und uns ausgewiesen. Wir waren eingesperrt worden, wenn wir geblieben waren. Und wenn wir eingesperrt werden mu?ten, wollten wir es lieber in einem anderen Lande als in Deutschland.«

Der Oberkommissar lachte trocken. »Kann ich verstehen. Wie sind Sie denn ohne Pa? uber die Grenze gekommen?«

»An der tschechischen Grenze genugte damals fur den kleinen Grenzverkehr ein einfacher Einwohner- Meldeschein. Den hatten wir noch. Man konnte damit drei Tage in der Tschechoslowakei bleiben.«

»Und nachher?«

»Wir bekamen drei Monate Aufenthaltserlaubnis. Dann mu?ten wir fort.«

»Wie lange sind Sie schon in Osterreich?«

»Drei Monate.«

»Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?«

»Weil ich dann sofort ausgewiesen worden ware.«

»Na, na!« Der Oberkommissar schlug mit der ?achen Hand auf die Sessellehne. »Woher wissen Sie das so genau?«

Kern verschwieg, da? er und seine Eltern sich das erste Mal, als sie uber die osterreichische Grenze gegangen waren, sofort bei der Polizei gemeldet hatten. Sie waren am gleichen Tage uber die Grenze zuruckgeschoben worden. Als sie dann wiederkamen, hatten sie sich nicht mehr gemeldet.

»Ist es vielleicht nicht wahr?« fragte er.

»Sie haben hier nicht zu fragen; Sie haben nur zu antworten«, sagte der Schreiber grob.

»Wo sind Ihre Eltern jetzt?« fragte der Oberkommissar.

»Meine Mutter ist in Ungarn. Sie hat dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, weil sie ungarischer Herkunft ist. Mein Vater ist verhaftet und ausgewiesen worden, als ich nicht im Hotel war. Ich wei? nicht, wo er ist!«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Ich war Student.«

»Wovon haben Sie gelebt?«

»Ich habe etwas Geld.«

»Wieviel?«

»Ich habe zwolf Schilling hier. Das andere habe ich bei Bekannten.«

Kern besa? nicht mehr als die zwolf Schilling. Er hatte sie verdient durch Handel mit Seife, Parfum und Toilettewasser. Hatte er das jedoch zugegeben, ware er auch wegen verbotener Arbeit strafbar gewesen.

Der Oberkommissar erhob sich und gahnte. »Sind wir durch?«

»Es ist noch einer unten«, sagte der Schreiber.

»Wird auch dasselbe sein. Viel Gescher und wenig Wolle.« Der Oberkommissar warf einen schiefen Blick auf den Offizier. »Alles Leute, die illegal eingereist sind. Sieht nicht nach kommunistischem Komplott aus, was? Wer hat denn die Anzeige gemacht?«

»Jemand, der auch so eine Bude hat. Nur mit Wanzen«, sagte der Schreiber. »Geschaftsneid wahrscheinlich.«

Der Oberkommissar lachte. Dann sah er, da? Kern noch im Zimmer war. »Bringt ihn hinunter. Sie wissen ja, was es gibt: vierzehn Tage Haft und Ausweisung.« Er gahnte nochmals. »Na, ich geh’ auf ein Gulasch und ein Bier.«

MAN BRACHTE KERN in eine kleinere Zelle als vorher. Au?er ihm befanden sich noch funf der Verhafteten darin; darunter der Pole, der mit im Zimmer geschlafen hatte. Nach einer Viertelstunde brachte man auch Steiner. Er setzte sich neben Kern. »Das erstemal im Kasten, Kleiner?«

Kern nickte.

»Und? Fuhlst dich wie ein Morder, was?«

Kern verzog die Lippen. »Ungefahr. Gefangnis – ich habe da noch so Vorstellungen von fruher her.«

»Das hier ist nicht Gefangnis«, belehrte Steiner ihn. »Es ist Haft. Gefangnis kommt spater.«

»Warst du schon drin?«

»Ja. Wirst es dir das erstemal zu Herzen nehmen. Dann nicht mehr. Besonders im Winter nicht. Hast wenigstens Ruhe wahrend der Zeit. Ein Mensch ohne Pa? ist eine Leiche auf Urlaub. Hat sich eigentlich nur umzubringen, sonst nichts.«

»Und mit Pa?? Mit Pa? bekommst du doch auch nirgendwo im Ausland Arbeitserlaubnis.«

»Naturlich nicht. Du hast damit nur das Recht, in Ruhe zu verhungern. Nicht auf der Flucht. Das ist schon viel.«

Kern starrte vor sich hin.

Steiner schlug ihm auf die Schulter.

»Kopf hoch, Baby!

Du hast dafur das Gluck, im zwanzigsten Jahrhundert zu leben – im Jahrhundert der Kultur, des Fortschritts und der Menschlichkeit.«

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