Erich Maria Remarque
Liebe Deinen Nachsten
ERSTER TEIL
1
Kern fuhr mit einem Ruck aus schwarzem, brodelndem Schlaf empor und lauschte. Er war, wie alle Gehetzten, sofort ganz wach, gespannt und bereit zur Flucht. Wahrend er unbeweglich, den schmalen Korper schrag vorgeneigt, im Bette sa?, uberlegte er, wie er entkommen konnte, wenn der Aufgang schon besetzt ware.
Das Zimmer lag im vierten Stock. Es hatte ein Fenster nach der Hofseite, aber keinen Balkon und kein Gesims, von denen aus die Dachrinne zu erreichen gewesen ware. Nach dem Hofe zu war eine Flucht also unmoglich. Es gab nur noch einen Weg: uber den Korridor zum Dachboden und uber das Dach hinweg zum nachsten Hause.
Kern sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war kurz nach funf. Das Zimmer war noch fast ?nster. Grau und undeutlich schimmerten die Laken der beiden anderen Betten durch die Dunkelheit. Der Pole, der an der Wand schlief, schnarchte.
Vorsichtig glitt Kern aus dem Bett und schlich zur Tur. Im selben Augenblick ruhrte sich der Mann, der im mittleren Bette lag. »Ist was los?« ?usterte er.
Kern gab keine Antwort; er hielt das Ohr an die Tur gepre?t.
Der andere richtete sich auf. Er wuhlte in den Sachen, die am Pfosten des eisernen Bettgestells hingen. Eine Taschenlampe blitzte auf und ?ng in ihrem fahlen, zitternden Lichtkreis ein Stuck der braunen, abgeblatterten Tur und die Gestalt Kerns, der mit wirrem Haar und zerdrucktem Unterzeug am Schlusselloch lauschte.
»Verdammt, sag, was los ist!« zischte der Mann im Bett.
Kern richtete sich auf. »Ich wei? nicht. Bin aufgewacht, weil ich irgendwas gehort habe.«
»Irgendwas! Was irgendwas, du Dummkopf?«
»Irgendwas unten. Stimmen, Schritte oder so was.«
Der Mann stand auf und kam zur Tur. Er hatte ein gelbliches
Hemd an, unter dem im Schein der Taschenlampe ein Paar stark behaarte, muskulose Beine hervorkamen. Er horchte eine Weile. »Wie lange wohnst du schon hier?« fragte er dann.
»Zwei Monate.«
»War in der Zeit schon mal ’ne Razzia?«
Kern schuttelte den Kopf.
»Aha! Wirst dich dann wohl verhort haben. Ein Furz im Schlaf klingt ja manchmal wie ein Donnerschlag.«
Er leuchtete Kern ins Gesicht. »Na ja, knapp zwanzig, was? Emigrant?«
»Naturlich.«
»Jesus Christus tso siem stalo…« gurgelte plotzlich der Pole in der Ecke.
Der Mann im Hemd lie? den Lichtkreis hinuberwandem. Ein schwarzes Bartgestrupp mit aufgerissener Mundhohle und aufgerissenen Augen unter buschigen Brauen tauchte aus dem Dunkel auf.
»Halt’s Maul mit deinem Jesu Christo, Polack«, knurrte der Mann mit der Taschenlampe. »Der lebt nicht mehr. Ist als Kriegsfreiwilliger an der Somme gefallen.«
»Tso?«
»Da ist es wieder!« Kern sprang zum Bett. »Sie kommen von unten! Wir mussen ubers Dach!«
Der andere drehte sich wie ein Kreisel. Man horte Turen klappen und gedampfte Stimmen. »Ver?ucht! ’raus! Polski, ’raus! Polizei!«
Er ri? seine Sachen vom Bett. »Wei?t du den Weg?« fragte er Kern.
»Ja. Rechts, den Korridor entlang! Die Treppe hinter dem Ausgu? ’rauf!«
»Los!« Der Mann im Hemd offnete lautlos die Tur.
»Matka boska!« gurgelte der Pole.
»Halt’s Maul! Verrat nichts!«
Der Mann zog die Tur zu. Kern und er huschten den schmalen, schmutzigen Korridor entlang. Sie liefen so leise, da? sie den schlecht zugedrehten Wasserhahn uber dem Ausgu? tropfeln horten.
»Hier ’rum!« ?usterte Kern, bog um die Ecke und rannte gegen etwas. Er taumelte, sah eine Uniform und wollte zuruck.
Im gleichen Augenblick bekam er einen Schlag auf den Arm. »Stehenbleiben! Hande hoch!« kommandierte jemand aus dem Dunkel.
Kern lie? seine Sachen zu Boden rutschen. Sein linker Arm war taub von dem Schlag, der den Ellenbogen getroffen hatte. Der Mann im Hemd sah eine Sekunde lang so aus, als wolle er sich in das Dunkel auf die Stimme sturzen. Aber dann blickte er auf den Lauf des Revolvers, der ihm von einem zweiten Beamten gegen die Brust gehalten wurde, und hob langsam die Arme.
»Umdrehen!« kommandierte die Stimme. »Ans Fenster stellen!«
Die beiden gehorchten.
»Sieh nach, was in den Taschen ist«, sagte der Polizist mit dem Revolver.
Der zweite Beamte untersuchte die Kleider, die auf dem Boden lagen. »Funfunddrei?ig Schilling – eine Taschenlampe – eine Pfeife – ein Taschenmesser – ein Lauskamm – sonst nichts…«
»Keine Papiere?«
»Paar Briefe oder so was…«
»Keine Passe?«
»Nein.«
»Wo habt ihr eure Passe?« fragte der Polizist mit dem Revolver.
»Ich habe keinen«, erwiderte Kern.
»Naturlich!« Der Polizist stie? dem Mann im Hemd den Revolver in den Rucken. »Und du? Mu? man dich extra fragen, du Hurenbankert?« sagte er.
Die beiden Polizisten sahen sich an. Der ohne Revolver ?ng an zu lachen. Der andere leckte sich die Lippen. »Ah, da schau her, ein feiner Herr!« sagte er langsam. »Exzellenz, der Stromer! General Stinktier!« Er holte plotzlich aus und schlug dem Mann die Faust gegen das Kinn. »Hande hoch!« brullte er, als der andere taumelte.
Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. »Dich meine ich, du Schei?er!« sagte der Polizist. »Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch einmal aufschutteln?«
»Ich habe keinen Pa?«, sagte der Mann.
»Ich habe keinen Pa?«, affte der Polizist nach. »Naturlich, Herr Hurenbankert hat keinen Pa?. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber ?ott!«
Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Turen auf. Einer mit Schulterstucken kam heran. »Was habt ihr denn da?«
»Zwei Vogel, die ubers Dach verduften wollten.«
Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung. Sein Gesicht war schmal und bla?. Er trug einen sorgfaltig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 4711. Sein Vater hatte eine Parfumfabrik gehabt, daher wu?te er so etwas.
»Die beiden werden wir uns besonders vornehmen«, sagte der Offizier. »Handschellen!«
»Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhaftungen zu schlagen?« fragte der Mann im Hemd.
Der Offizier sah auf. »Wie hei?en Sie?«
»Steiner. Josef Steiner.«
»Er hat keinen Pa? und hat uns bedroht«, erklarte der Polizist mit dem Revolver.