»Gibt es hier eigentlich nichts zu essen?« fragte ein kleiner Mann mit einem Glatzkopf, der in der Ecke auf einer Pritsche sa?. »Keinen Kaffee wenigstens?«

»Sie brauchen nur dem Kellner zu klingeln«, erwiderte Steiner. »Er soll die Karte bringen. Es gibt hier vier Menus zur Auswahl. Kaviar a discretion selbstverstandlich.«

»Essen sarr schlecht hierr«, sagte der Pole.

»Ach, da ist ja unser Jesu Christo!« Steiner betrachtete ihn interessiert. »Bist du Professional hier?«

»Sarr schlecht«, wiederholte der Pole. »Und so wenig…«

»O Gott!« sagte der Glatzkopf in der Ecke. »Und ich habe ein gebratenes Huhn in meinem Koffer. Wann werden sie uns hier blo? ’rauslassen?«

»In vierzehn Tagen«, erwiderte Steiner. »Das ist die ubliche Strafe fur Emigranten ohne Papiere. Nicht wahr, Jesu Christo? Du kennst das doch!«

»Vierzehn Tage«, bestatigte der Pole. »Odarr langer. Essen sarr wennig. Sarr schlecht. Dunne Suppe.«

»Ver?ucht! In der Zeit ist das Huhn verfault.« Der Glatzkopf stohnte. »Mein erstes Poulet seit zwei Jahren. Zusammengespart, Groschen fur Groschen. Heute mittag wollte ich es essen.«

»Warten Sie bis heute abend mit Ihrem Schmerz«, sagte Steiner. »Dann konnen Sie annehmen, Sie hatten es schon gegessen, und Sie haben es leichter.«

»Was? Was reden Sie da fur Unsinn?« Der Mann starrte Steiner aufgewuhlt an. »Das soll dasselbe sein, Sie Quatschkopf? Wenn ich es doch nicht gegessen habe? Und au?erdem hatte ich mir eine Keule noch fur morgen fruh aufgehoben.«

»Dann warten Sie bis morgen mittag.«

»Furr mich das nicht schlimm«, mischte sich der Pole ein. »Esse nie Poulet.«

»Fur dich kann’s doch auch nicht schlimm sein. Du hast doch keins gebraten im Koffer liegen«, schimpfte der Mann in der Ecke.

»Auch wenn ich hatte, nicht schlimm! Esse nie derselbe! Vertrage nicht Poulet. Kotze hinterher!« Der Pole sah sehr zufrieden aus und strahlte seinen Bart. »Furr mich gar nicht schlimm, der Poulet!«

»Mann Gottes, das will ja niemand wissen!« schrie der Glatzkopf argerlich.

»Sogar wenn Poulet hierr – ich demselben nicht essen!« verkundete der Pole triumphierend.

»Herrgott! Hat man so was schon mal gehort!« Der Besitzer des Huhns im Koffer druckte verzweifelt die Hande gegen die Augen.

»Mit gebratenen Poulets kann ihm scheinbar nichts passieren«, sagte Steiner. »Unser Jesu Christo ist da immun. Ein Diogenes der Brathuhner. Wie ist es denn mit Suppenhuhn?«

»Auch nicht«, erklarte der Pole fest.

»Und Paprikahuhn?«

»Ibberhaupt kein Huhn!« Der Pole strahlte.

»Ich werde verruckt!« heulte der gemarterte Besitzer des Poulets.

Steiner drehte sich um. »Und Eier, Jesu Christo? Huhnereier?«

Das Strahlen verschwand. »Eierchen. Ja! Eierchen garne!« Ein Schimmer von Sehnsucht um?og den zerrauften Bart. »Sarr garne.«

»Dem Himmel sei Dank! Endlich ein Loch in der Vollkommenheit!«

»Eierchen sarr garne«, beteuerte der Pole. »Vierr Stuck, sechs Stuck, zwolf Stuck, gekocht sechs Stuck, andere gebraten. Mit Bratkartoffelchens. Bratkartoffelchens mit Speck.«

»Ich kann das nicht mehr mit anhoren! Schlagt ihn ans Kreuz, den gefra?igen Christus!« tobte das Huhn im Koffer.

»Meine Herren«, sagte eine warme Ba?stimme mit russischem Akzent,»wozu so viel Aufregung um eine Illusion. Ich habe eine Flasche Wodka mit durchgebracht. Darf ich anbieten? Wodka warmt das Herz und beruhigt das Gemut.«

Der Russe entkorkte die Flasche, trank und reichte sie Steiner. Der nahm einen Schluck und gab sie an Kern weiter. Kern schuttelte den Kopf.

»Trink, Baby«, sagte Steiner. »Gehort dazu. Mu?t es lernen.«

»Wodka sarr gutt!« bestatigte der Pole.

Kern nahm einen Schluck und gab die Flasche an den Polen, der sie mit geubtem Griff in die Gurgel schwenkte.

»Er sauft sie aus, der Eierfetischist!« knurrte der Mann mit dem Poulet und entri? ihm die Flasche. »Es ist nicht mehr viel drin«, sagte er bedauernd zu dem Russen, nachdem er getrunken hatte.

Der wehrte ab. »Macht nichts. Ich komme spatestens heute abend ’raus.«

»Sind Sie dessen so sicher?« fragte Steiner.

Der Russe machte eine kleine Verbeugung. »Leider, mochte ich fast sagen. Ich besitze als Russe einen Nansenpa?.«

»Nansenpa?!« wiederholte das Poulet ehrfurchtig. »Da gehoren Sie naturlich zur Aristokratie der Vaterlandslosen.«

»Es tut mir leid, da? es bei Ihnen noch nicht soweit ist«, sagte der Russe ho?ich.

»Sie hatten den Vorrang«, erwiderte Steiner. »Sie waren die ersten. Sie hatten das gro?e Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lastig und unerwunscht.«

Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. »Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.«

»Danke«, sagte der Mann ablehnend. »Ich gehore nicht zu Ihnen.«

Alle sahen ihn an.

»Ich besitze einen gultigen Pa?, ein Vaterland. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.«

Alle schwiegen. »Verzeihen Sie die Frage«, sagte der Russe nach einer Weile zogernd,»weshalb sind Sie denn dann hier?«

»Wegen meines Berufes«, erwiderte der Mann hochmutig. »Ich bin kein windiger Fluchtling ohne Papiere. Ich bin ein anstandiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Burgerrecht.«

Mittags gab es dunne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hie? es diesmal Kaffee, und es gab ein Stuck Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tur. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. »Ich werde in vierzehn Tagen ins Cafe Sperler schauen«, sagte er zu Steiner. »Vielleicht sind Sie dann schon dort und ich wei? schon etwas. Auf Wiedersehen!«

Um acht Uhr war der Vollburger und Falschspieler reif fur den Anschlu?. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und lie? sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dammerung und die gluhenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzahlte, da? man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup gemacht habe. Er glaube nicht, da? man etwas fande. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.

Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezundet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichholzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, ?ackerndes Licht.

Der Pole, das Poulet und Steiner ruckten heran. »Spielen ohne Geld, nicht wahr?« sagte das Poulet.

»Selbstverstandlich.« Der Falschspieler lachelte.

»Spielst du nicht mit?« fragte Steiner Kern.

»Ich kann nicht Karten spielen.«

»Mu?t du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?«

»Morgen. Heute nicht.«

Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. »Ist was los mit dir?«

Kern schuttelte den Kopf. »Nein. Nur etwas mude. Lege mich auf die Pritsche da.«

Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinanderschie?en zu lassen.

»Wer gibt?« fragte das Poulet.

Der Vollburger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein As.

Der Falschspieler sah kurz auf. »Stechen.«

Er zog. Wieder ein As. Er lachelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlassig die unterste Karte des

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