Spiels auf – das Kreuz-As.

»So ein Zufall!« Das Poulet lachte.

Der Falschspieler lachte nicht. »Woher kennen Sie den Trick?« fragte er Steiner betroffen. »Sind Sie aus der Branche?«

»Nein, Amateur. Da freut einen die Anerkennung des Fachmannes doppelt.«

»Es ist nicht das!« Der Falschspieler sah ihn an. »Der Trick stammt namlich von mir.«

»Ach so!« Steiner zerdruckte seine Zigarette. »Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefangnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.«

»Katscher! Jetzt verstehe ich!« Der Taschendieb atmete auf. »Daher also! Katscher ist ein Schuler von mir. Sie haben das gut gelernt.«

»Ja«, sagte Steiner,»man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.«

Der Falschspieler ubergab ihm das Spiel Karten und blickte prufend in die Kerzen?amme. »Das Licht ist schlecht – aber wir spielen naturlich nur zum Vergnugen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich…«

Kern legte sich auf die Pritsche und schlo? die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhor morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken mussen; – seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zuruckkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefahrlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium fur medizinische Seifen, Parfume und Toilettewasser zu ruinieren und es dann fur nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam vollig gebrochen nach sechs Wochen Haft zuruck. Er sprach nie daruber; aber er verkaufte seine Fabrik fur einen lacherlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brunn; von da nachts uber die Grenze nach Osterreich – am nachsten Tag durch die Polizei zuruck in die Tschechei – heimlich ein paar Tage spater wieder uber die Grenze nach Wien – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdurftig im Walde mit zwei Aststucken geschient – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war – wieder die Grenze; wieder Wien – das erbarmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosentragern und Schnursenkeln – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam – die Monate allein, von einem Versteck zum andern…

Kern drehte sich um. Dabei stie? er jemand an. Er offnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bundel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa funfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum geruhrt hatte.

»Entschuldigung«, sagte Kern. »Ich habe Sie nicht gesehen…«

Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, da? er die Augen offen hatte. Er kannte die Art von Zustanden; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.

»Verdammt!« schrie plotzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. »Ich Ochse! Ich unerhorter Ochse!«

»Wieso?« fragte Steiner ruhig. »Die Herzdame war genau richtig!«

»Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hatte mir doch mein Poulet schicken konnen! Herrgott, ich damlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!«

Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen ware.

Kern merkte auf einmal, da? er lachte. Er wollte nicht lachen. Aber er konnte plotzlich nicht mehr aufhoren. Er lachte, da? er sich schuttelte, und er wu?te nicht weshalb. Irgend etwas in ihm lachte und warf alles durcheinander – Traurigkeit, Vergangenheit und alle Gedanken.

»Was ist los, Baby« fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.

»Ich wei? nicht. Ich lache.«

»Lachen ist immer gut.« Steiner zog den Pickonig und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.

Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschlo?, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwurdige Gefuhl, als andere dieser Entschlu? sein ganzes Leben.

2

Nach funf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden konnen. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benutzt, die Methode seines Schulers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat, Ja?, Tarock und Poker bei – Skat fur Emigranten; Ja? fur die Schweiz; Tarock fur Osterreich und Poker fur alle anderen Falle.

Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Inspektor fuhrte ihn in einen Raum, in dem ein alterer Mann sa?. Das Zimmer erschien Kern riesig gro? und so hell, da? er blinzeln mu?te; er war schon an die Zelle gewohnt.

»Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren am drei?igsten November neunzehnhundertvierzehn in Dresden?« fragte der Mann gleichgultig und blickte in ein Papier.

Kern nickte. Er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war plotzlich trocken. Der Mann sah auf.

»Ja«, sagte Kern heiser.

»Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Osterreich aufgehalten…« Der Mann las rasch das Protokoll herunter. »Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbu?t worden sind. Sie werden aus Osterreich ausgewiesen. Jede Ruckkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschlu?. Und hier haben Sie zu unterschreiben, da? Sie den Ausweisungsbeschlu? zur Kenntnis genommen haben und wissen, da? jede Ruckkehr strafbar ist. Hier rechts.«

Der Mann zundete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann wurde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschlie?en und zum Abendessen gehen – nachher wurde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Glaser Heurigen trinken – gegen elf Uhr wurde er gahnen, seine Zeche zahlen und erklaren:»Ich bin mude. Ich gehe nach Hause. Schlafen.« Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit wurde die Dunkelheit dicht uber den Waldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, mude, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, ?ackernde Funkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stuck Papier trennte, Pa? genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgesto?ener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stuck Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.

»Hier rechts«, sagte der Beamte. »Vor- und Zuname.«

Kern ri? sich zusammen und unterschrieb.

»An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?« fragte der Beamte.

»An die tschechische.«

»Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.«

»Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?«

»Was fur Sachen?«

»Einen Koffer mit Wasche und so was.«

»Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie konnen vorbeigehen.«

Der Inspektor fuhrte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. »Was war los?« fragte das Poulet neugierig.

»In einer Stunde kommen wir ’raus.«

»Jesus Christus!« sagte der Pole. »Geht Schei?e dann wieder los.«

»Mochtest du hier bleiben?« fragte das Poulet.

»Wenn Essen bessarr – und kleine Posten als Kalfaktor – garrne.«

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