»Das geht nicht. Warum?«
»Ich warte darauf, da? mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu mu? ich eine feste Adresse haben. Ich mochte dann nach Osterreich.«
Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zuruck. Er log glatt und schnell. Er hatte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wu?te, da? er lugen mu?te. Der Beamte dagegen wu?te, da? er diese Lugen glauben mu?te – denn es gab keine Moglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, da? beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.
Der Beamte lie? den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen. »Gut«, sagte er. »Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlangerung.«
Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, da? alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, da? der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen konnte, da? er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damalls sei ein Bruder von ihm gewesen.
Aber der Beamte war viel zu mude, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin. »Hier! Sind noch mehr drau?en?«
»Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.«
»Gut.«
Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, da? Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als konne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.
Erst drau?en vor dem Tor des Gebaudes blieb er stehen und sah sich um. Du su?er Himmel, dachte er uberwaltigt, du su?er, blauer Himmel! Ich bin zuruckgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nachte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Moge er demnachst eins ?nden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthalt.
Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fuhlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschlu? trat er dann auf den Polizisten zu. »Wie spat ist es, Wachtmeister?« fragte er.
Er hatte selbst eine Uhr bei sich. Aber es war ein zu seltenes Erlebnis, einmal vor einem Polizisten keine Angst haben zu brauchen.
»Funf«, brummte der Polizist.
»Danke.« Kern ging langsam die Treppe hinunter. Er ware am liebsten gelaufen. Jetzt erst glaubte er, da? alles wirklich wahr war.
DER GROSSEWARTERAUM des Komitees fur Fluchtlingshilfe war uberfullt mit Menschen. Trotzdem wirkte er auf eine sonderbare Weise kahl. Die Leute standen und sa?en im Halbdunkel herum wie Schatten. Fast niemand sprach. Jeder hatte alles, was ihn anging, schon hundertmal gesagt und besprochen. Jetzt gab es nur noch eins, zu warten. Es war die letzte Barriere vor der Verzwei?ung.
Uber die Halfte der Anwesenden waren Juden. Neben Kern sa? ein bleicher Mensch mit einem Birnenschadel, der einen Geigenkasten auf den Knien hielt. Auf der andern Seite hockte ein alter Mann, uber dessen gebuckelte Stirn eine Narbe lief. Er offnete und schlo? ruhelos die Hande. Daneben sa?en, eng zusammengeschmiegt, ein blonder, junger Mann und ein dunkles Madchen. Sie hielten die Hande fest ineinander verschrankt, als furchteten sie, wenn ihre Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachlie?e, auch hier noch auseinandergerissen zu werden. Sie sahen sich nicht an; sie sahen irgendwohin in den Raum und in die Vergangenheit hinein, und ihre Augen waren leer von Gefuhl. Hinter ihnen sa? eine dicke Frau, die lautlos weinte. Die Tranen liefen ihr aus den Augen, uber die Wangen und das Kinn auf das Kleid; sie achtete nicht darauf und machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Ihre Hande lagen schlaff in ihrem Scho?.
In dieser schweigenden Ergebenheit und Trauer spielte unbefangen ein Kind. Es war ein Madchen von ungefahr sechs Jahren. Lebhaft und ungeduldig, mit glanzenden Augen und schwarzen Locken, wanderte es umher.
Vor dem Mann mit dem Birnenschadel blieb es stehen. Es blickte ihn eine Zeitlang an; dann zeigte es auf den Kasten, den er auf den Knien hielt. »Hast du eine Geige darin?« fragte es mit einer klingenden, fordernden Stimme.
Der Mann sah das Kind einen Moment an, als verstande er es nicht. Dann nickte er.
»Zeig sie mir«, sagte das Madchen.
»Warum?«
»Ich mochte sie sehen.«
Der Geiger zogerte einen Augenblick; dann offnete er den Kasten und nahm das Instrument heraus. Es war in ein violettes Seidentuch gewickelt. Mit behutsamen Handen faltete er es auseinander.
Das Kind starrte die Geige lange an. Vorsichtig hob es dann die Hand und beruhrte die Saiten.
»Warum spielst du nicht?« fragte es.
Der Geiger antwortete nicht.
»Spiel doch etwas«, wiederholte das Madchen.
»Mirjam!« rief eine Frau, die einen Saugling auf dem Scho? hatte, von der andern Seite des Raumes leise und unterdruckt. »Komm her zu mir, Mirjam!«
Das Madchen horte nicht auf sie. Es schaute den Geiger an. »Kannst du nicht spielen?«
»Ich kann schon…«
»Warum spielst du dann nicht?«
Der Geiger sah sich verlegen um. Seine gro?e, ausgearbeitete Hand umklammerte den Geigenhals. Ein paar Leute in der Nahe wurden aufmerksam und sahen ihn an. Er wu?te nicht, wohin er blicken sollte.
»Ich kann doch hier nicht spielen«, sagte er schlie?lich.
»Warum denn nicht?« fragte das Madchen. »Spiel doch! Es ist langweilig hier.«
»Mirjam!« rief die Mutter.
»Das Kind hat recht«, sagte der alte Mann mit der Narbe auf der Stirn, der neben dem Geiger sa?. »Spielen Sie doch. Vielleicht lenkt es uns alle etwas ab. Und es wird ja wohl erlaubt sein.«
Der Geiger zogerte noch einen Augenblick. Dann nahm er den Bogen aus dem Kasten, spannte ihn und setzte die Geige an seine Schulter. Klar schwebte der erste Ton durch den Raum.
Es war Kern, als ob ihn etwas anruhre. Als ob eine Hand etwas in ihm wegschiebe. Er wollte sich wehren, aber er konnte es nicht. Seine Haut war dagegen. Sie frostelte plotzlich und zog sich zusammen. Dann dehnte sie sich aus und war nichts mehr als Warme.
Die Tur zum Buro offnete sich. Der Kopf des Sekretars erschien. Er kam herein und lie? die Tur hinter sich offenstehen. Sie war hell erleuchtet. Im Buro brannte schon Licht. Die kleine verwachsene Gestalt des Sekretars hob sich dunkel von ihr ab. Es sah aus, als wollte er etwa sagen – doch dann legte er den Kopf schrag und lauschte. Langsam und lautlos, als drucke eine unsichtbare Hand gegen sie, schwang hinter ihm die Tur wieder zu.
Nur noch die Geige war da. Sie erfullte die schwere, tote Luft des Raumes, und es schien, als verandere sich alles – als schmelze sie die stumme Einsamkeit der vielen, kleinen Existenzen, die im Schatten der Wande kauerten, und sammele sie zu einer gro?en gemeinsamen Sehnsucht und Klage.
Kern legte die Arme um seine Knie. Er senkte den Kopf und lie? die Flut uber sich hinwegstromen. Er hatte das Gefuhl, da? sie ihn wegschwemmte, irgendwohin – zu sich selbst und zu etwas sehr Fremdem. Das kleine, schwarzhaarige Madchen hockte auf dem Boden neben dem Geiger. Es sa? still und reglos und blickte ihn an.
Die Geige schwieg. Kern konnte etwas Klavier spielen, und er verstand so viel von Musik, um zu wissen, da? der Mann wunderbar gespielt hatte.
»Schumann?« fragte der Alte neben dem Geiger.
Der nickte.
»Spiel weiter«, sagte das Madchen. »Spiel etwas, da? man lachen kann. Hier ist es traurig.«
»Mirjam!« rief die Mutter leise.
»Gut«, sagte der Geiger.
Er setzte den Bogen wieder an.