ER GING ZU der Pension, in der die Polizei ihn erwischt hatte. Die Wirtin sa? noch im Buro. Sie fuhr zusammen, als sie Steiner erblickte. »Sie konnen hier nicht wohnen«, sagte sie rasch.
»Doch!« Steiner legte den Rucksack ab.
»Herr Steiner, es ist unmoglich! Die Polizei kann jeden Tag wiederkommen. Dann schlie?en sie mir die Pension!«
»Luischen«, sagte Steiner ruhig,»die beste Deckung, die es im Kriege gab, war ein frisches Granatloch. Es kam fast nie vor, da? es gleich darauf noch einmal hineinscho?. Deshalb ist im Moment Ihre Bude eine der sichersten in Wien!«
Die Wirtin fa?te verzweifelt in ihr blondes Haar. »Sie sind mein Untergang!« erklarte sie pathetisch.
»Wie schon! Das wollte ich immer schon mal sein! Jemandes Untergang! Sie sind eine romantische Natur, Luischen!« Steiner sah sich um. »Gibt es noch ein bi?chen Kaffee? Und einen Schnaps?«
»Kaffee? Und Schnaps?«
»Ja, Luischen! Ich wu?te, da? Sie mich verstehen wurden. Eine so hubsche Frau! Ist da noch der Sliwowitz im Wandschrank?«
Die Wirtin blickte ihn ratlos an. »Ja, naturlich«, sagte sie dann.
»Genau das Richtige!« Steiner nahm die Flasche und zwei Glaser heraus. »Nehmen Sie auch einen?«
»Ich?«
»Ja, Sie! Wer sonst?«
»Nein.«
»Doch, Luischen! Tun Sie mir den Gefallen. Allein trinken hat was Herzloses. Hier…« Er fullte das Glas und hielt es ihr hin.
Die Wirtin zogerte. Dann nahm sie das Glas. »Gut, meinetwegen! Aber Sie werden nicht hier wohnen, nicht wahr?«
»Nur ein paar Tage«, sagte Steiner beruhigend,»nicht langer als ein paar Tage. Sie bringen mir Gluck. Ich habe was vor.« Er lachelte. »Und nun den Kaffee, Luischen!«
»Kaffee? Ich habe keinen Kaffee hier.«
»Doch, Kind. Da druben steht er ja. Ich wette, da? er gut ist.«
Die Wirtin lachte argerlich. »Sie sind schon einer! Ich hei?e ubrigens nicht Luise. Ich hei?e Therese.«
»Therese ist ein Traum!«
Die Wirtin holte ihm den Kaffee. »Da sind noch die Sachen vom alten Seligmann hier«, sagte sie und zeigte auf einen Koffer. »Was soll ich nur mit denen machen?«
»War das der Jude mit dem grauen Bart?«
Die Wirtin nickte. »Er ist tot, das habe ich gehort. Mehr nicht…«
»Das ist auch schon genug fur einen einzelnen Menschen. Wissen Sie nicht, wo seine Kinder sind?«
»Wie soll ich das wissen? Darum kann ich mich doch nicht auch noch kummern! -«
»Das ist wahr.« Steiner zog den Koffer heran und offnete ihn. Eine Anzahl Garnrollen mit verschiedenfarbenem Zwirn ?el heraus. Darunter lag sauber verpackt ein Paket Schnurriemen. Dann kamen ein Anzug, ein Paar Schuhe, ein hebraisches Buch, etwas Wasche, ein paar Bogen mit Hornknopfen, ein kleines Ledersackchen mit Einschillingstucken, zwei Gebetsriemen und ein wei?er Gebetsmantel, in Seidenpapier eingewickelt.
»Nicht viel fur ein ganzes Leben, was, Therese?« sagte Steiner.
»Manche haben noch weniger.«
»Auch richtig.« Steiner untersuchte das hebraische Buch und fand zwischen den inneren Umschlagseiten einen Zettel eingeklemmt. Vorsichtig zog er ihn heraus. Er enthielt eine mit Tinte geschriebene Adresse. »Aha! Da werde ich mal nachfragen.« Steiner stand auf. »Danke fur den Kaffee und den Sliwowitz, Therese. Ich komme spat heute. Am besten quartieren Sie mich parterre nach dem Hof zu ein. Da kann ich dann rasch hinaus.«
Die Wirtin wollte noch etwas sagen. Aber Steiner hob die Hand. »Nein, nein, Therese! Wenn die Tur nicht offen ist, komme ich mit der gesamten Wiener Polizei. Aber ich bin sicher, sie wird offen sein! Die Heimatlosen beherbergen ist ein Gebot Gottes. Dafur gibt es tausend Jahre gro?ter Gluckseligkeit im Himmel. Meinen Rucksack lasse ich schon hier.«
Er ging. Er wu?te, da? es zwecklos war, das Gesprach fortzusetzen, und er kannte die merkwurdig eindringliche Wirkung zuruckgelassener Sachen auf burgerliche Menschen. Sein Rucksack wurde ein besserer Quartiermeister fur ihn sein als alle weiteren Uberredungsversuche. Er wurde die letzten Widerstande der Wirtin durch sein stummes Vorhandensein besiegen.
STEINER GING ZUM Cafe Sperler. Er wollte den Russen Tschernikoff treffen. Sie hatten wahrend der Haft verabredet, am ersten und zweiten Tag der Freilassung Steiners nach Mitternacht dort aufeinander zu warten. Die Russen hatten als Staatenlose funfzehn Jahre Praxis mehr als die Deutschen. Tschernikoff hatte Steiner versprochen, nachzuforschen, ob in Wien falsche Papiere zu kaufen seien.
Steiner setzte sich an einen Tisch. Er wollte etwas zu trinken bestellen; aber kein Kellner kummerte sich um ihn. Es war nicht ublich, da? man etwas bestellen mu?te; die meisten hatten kein Geld dafur.
Das Lokal war die typische Emigrantenborse. Es war voll von Menschen. Viele sa?en auf den Banken und Stuhlen und schliefen; andere lagen auf dem Fu?boden, die Rucken gegen die Wand gelehnt. Sie nutzten die Zeit aus, umsonst zu schlafen, bis das Cafe wieder geoffnet wurde. Es waren meistens Intellektuelle. Sie konnten sich am wenigsten zurecht?nden.
Ein Mann in einem karierten Anzug mit einem Vollmondgesicht setzte sich neben Steiner. Er beobachtete ihn eine Weile mit ?inken, schwarzen Augen. »Was zu verkaufen?« fragte er dann. »Schmuck? Auch alten? Ich zahle bar.«
Steiner schuttelte den Kopf.
»Anzuge? Wasche? Schuhe?« Der Mann blickte ihn dringlich an. »Einen Trauring vielleicht?«
»Schieb ab, du Aasgeier«, knurrte Steiner. Er ha?te die Handler, die den ratlosen Emigranten ihre wenigen Sachen fur ein paar Groschen abjagen wollten.
Er rief einen voruberhuschenden Kellner an. »Hallo! Einen Kognak!«
Der Kellner warf einen zweifelnden Blick auf ihn und kam heran. »Sagten Sie Anwalt? Heute sind zwei da. Druben in der Ecke Rechtsanwalt Silber vom Kammergericht Berlin; ein Schilling die Beratung. Am runden Tisch neben der Tur Landgerichtsrat Epstein aus Munchen; funfzig Groschen die Konsultation. Unter uns: Silber ist besser.«
»Ich will keinen Anwalt, ich will Kognak«, sagte Steiner.
Der Kellner hielt die Hand ans Ohr. »Habe ich recht verstanden? Einen Kognak?«
»Ja. Ein Getrank, das besser wird, wenn die Glaser nicht zu klein sind.«
»Sehr wohl. Verzeihen Sie, ich bin etwas schwerhorig. Und dann bin ich es nicht mehr gewohnt. Hier wird fast nur Kaffee verlangt.«
»Gut. Dann bringen Sie den Kognak in einer Kaffeetasse.«
Der Kellner holte den Kognak und blieb am Tisch stehen. »Was ist los?« fragte Steiner. »Wollen Sie zusehen, wie ich trinke?«
»Es mu? vorher gezahlt werden. Das geht hier nicht anders. Wir wurden sonst pleite gehen.«
»Ach so, richtig!«
Steiner zahlte. »Das ist zuviel«, sagte der Kellner.
»Was zuviel ist, ist Ihr Trinkgeld.«
»Trinkgeld?« Der Kellner schmeckte das Wort formlich ab. »Mein Gott«, sagte er dann geruhrt. »Das ist das erste seit Jahren hier. Danke vielmals, mein Herr! Da fuhlt man sich ja direkt wieder einmal als Mensch!«
Ein paar Minuten spater kam der Russe durch die Tur. Er sah Steiner sofort und setzte sich zu ihm.
»Ich dachte schon, Sie waren nicht mehr in Wien, Tschernikoff.«
Der Russe lachte. »Bei uns ist das Wahrscheinliche immer unwahrscheinlich. Ich habe alles herausbekommen, was Sie wissen wollen.«
Steiner trank seinen Kognak aus. »Gibt es Papiere?«
»Ja. Sehr gute sogar. Das Beste, was ich an Falschungen seit langem gesehen habe.«
»Ich mu? ’raus!« sagte Steiner. »Ich mu? Papiere haben! Lieber mit einem falschen Pa? Zuchthaus riskieren als diese tagliche Sorge und Einsperrerei. Was haben Sie gesehen?«