Zeit…«
»Geben Sie es auf«, erwiderte Kern. »Das ist mein Rat. Kaufen Sie eine Handvoll Schnursenkel. Oder ein paar Buchsen Stiefelwichse. Oder einige Pakete Sicherheitsnadeln. Kleine Sachen, die jeder brauchen kann. Handeln Sie damit. Sie werden nicht viel daran verdienen. Aber Sie werden ab und zu etwas verkaufen. Auch damit handeln Hunderte von Emigranten. Aber man verkauft Sicherheitsnadeln leichter als Staubsauger.«
Der Professor blickte ihn nachdenklich an. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Kern lachelte verlegen. »Das glaube ich. Aber uberlegen Sie es einmal. Es ist besser. Ich wei? es. Ich habe fruher auch Staubsauger verkaufen wollen.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Der Professor reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich…« Seine Stimme war plotzlich sonderbar leise und fast unterwur?g, als ware er ein Schuler, der schlecht gelernt hatte.
Kern bi? sich auf die Lippen. »Ich war in jeder Ihrer Vorlesungen…«, sagte er.
»Ja, ja…« Der Professor machte eine ?atternde Geste. »Ich danke Ihnen, Herr… Herr…«
»Kern. Aber es ist nicht wichtig.«
»Doch, es ist wichtig, Herr Kern. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas verge?lich in der letzten Zeit. Und haben Sie vielen Dank. Ich glaube, ich werde es versuchen, Herr Kern.«
DAS HOTEL BRISTOL war ein baufalliger, kleiner Kasten, der von der Fluchtlingshilfe gemietet worden war. Kern bekam ein Bett in einem Zimmer angewiesen, in dem zwei andere Fluchtlinge wohnten. Er war nach dem Essen sehr mude geworden und legte sich gleich schlafen. Die beiden andern waren noch nicht da, und er horte auch nicht, da? sie kamen.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Er horte Schreie und sprang sofort empor. Ohne nachzudenken, griff er nach seinem Koffer und seinen Kleidern und rannte aus der Tur, den Korridor entlang.
Drau?en war alles still. Am Treppenabsatz blieb er stehen. Er stellte den Koffer ab und lauschte – dann strich er sich mit den Fausten uber das Gesicht. Wo war er? Was war los? Wo war die Polizei?
Langsam kam ihm die Erinnerung. Er blickte an sich herunter und lachelte erleichtert und entspannt. Er war in Prag im Hotel Bristol, und er hatte fur vierzehn Tage eine Aufenthaltserlaubnis. Es gab keinen Grund, so zu erschrecken. Sicher hatte er irgend etwas getraumt. Er kehrte um. Das darf nicht wieder passieren, dachte er. Es fehlt noch, da? ich nervos werde. Dann ist alles aus.
Er offnete die Tur und tastete im Dunkeln nach seinem Bett. Es war das rechte an der Wand. Er stellte seinen Koffer leise ab und hangte seine Kleider unten uber den Bettpfosten. Dann tastete er nach der Decke. Plotzlich spurte er, gerade als er sich hinlegen wollte, unter seiner Hand etwas Weiches, warm Atmendes und scho? bolzengerade hoch.
»Wer ist da?« fragte eine Madchenstimme schlaftrunken.
Kern hielt den Atem an. Er hatte die Zimmer verwechselt.
»Ist jemand da?« fragte die Stimme noch einmal.
Kern blieb stocksteif stehen. Er fuhlte, wie ihm der Schwei? ausbrach.
Nach einiger Zeit horte er einen Seufzer und dann, wie jemand sich umdrehte. Er wartete noch ein paar Minuten. Als alles still blieb und nur noch das tiefe Atmen im Dunkel zu horen war, griff er lautlos nach seinen Sachen und schlich vorsichtig aus dem Zimmer.
Auf dem Korridor stand jetzt ein Mann im Hemd. Er stand vor dem Zimmer, in dem Kern wohnte, und starrte ihn durch eine Brille an. Er beobachtete, wie er mit seinen Sachen aus dem Zimmer nebenan kam. Kern war zu verwirrt, um etwas zu erklaren. Er ging wortlos durch die offene Tur, an dem Mann vorbei, der ihm keinen Platz machte, packte seine Sachen weg und legte sich zu Bett. Vorher strich er zur Vorsicht uber die Decke. Es lag niemand darunter.
Der andere Mann stand noch eine Weile im Turausschnitt. Seine Brille blinkte im schwachen Licht des Korridors. Dann kam er herein und machte die Tur mit einem trockenen Knack zu.
Im selben Augenblick ?ng das Schreien wieder an. Kern verstand es jetzt. »Nicht schlagen! Nicht schlagen! Um Christi willen, nicht schlagen! Bitte, bitte! Oh…«
Das Schreien ging in ein entsetzliches Gurgeln uber und erstarb. Kern richtete sich auf. »Was ist denn das?« fragte er in das Dunkel hinein.
Ein Schalter klickte, und es wurde hell. Der Mann mit der Brille stand auf und ging zum dritten Bett. Darin lag ein keuchender, schwei?uberstromter Mensch mit irren Augen. Der andere nahm ein Glas, fullte es mit Wasser und hielt es dem im Bett an den Mund. »Trinken Sie das mal. Sie haben getraumt. Sie sind in Sicherheit.«
Der Mann trank gierig. Der Adamsapfel an seinem dunnen Halse stieg auf und ab. Dann lie? er sich erschopft zuruckfallen und schlo? tief atmend die Augen.
»Was ist das?« fragte Kern noch einmal.
Der Mann mit der Brille kam an sein Bett. »Was das ist? Jemand, der traumt. Laut traumt. Vor ein paar Wochen aus dem Konzentrationslager entlassen. Nerven, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Kern.
»Wohnen Sie hier?« fragte der Mann mit der Brille.
Kern nickte. »Ich scheine auch etwas nervos zu sein. Vorhin, als er schrie, bin ich hinausgelaufen. Ich dachte, es ware Polizei im Hause. Da habe ich hinterher die Zimmer verwechselt.«
»Ach so…«
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte der dritte Mann. »Ich werde jetzt wach bleiben. Entschuldigen Sie.«
»Ach, Unsinn!« Der mit der Brille ging zu seinem Bett zuruck. »Das bi?chen Traumen stort uns gar nicht. Nicht wahr, junger Mann?«
»Gar nicht«, wiederholte Kern.
Der Lichtschalter knackte, und es wurde wieder dunkel. Kern streckte sich aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Sonderbar war das gewesen, vorhin, in dem Zimmer nebenan. Die weiche Brust unter dem dunnen Leinen. Er fuhlte es immer noch… als ware seine Hand anders geworden dadurch.
Spater horte er, wie der Mann, der geschrien hatte, aufstand und sich ans Fenster setzte. Sein gebeugter Kopf hob sich schwarz vor dem heraufdammernden Grau des Morgens ab – wie das ?nstere Monument eines Sklaven. Kern betrachtete ihn eine Zeitlang. Dann uber?el ihn der Schlaf.
Josef Steiner kam leicht uber die Grenze zuruck. Er kannte sie gut und war als alter Soldat das Patrouillegehen gewohnt. Er war Kompaniefuhrer gewesen und hatte bereits 1915 fur eine schwierige Patrouille, von der er einen Gefangenen mitgebracht hatte, das Eiserne Kreuz erhalten.
Nach einer Stunde war er au?er Gefahr. Er ging zum Bahnhof. Es waren nicht viele Leute im Wagen. Der Schaffner sah ihn an. »Schon zuruck?«
»Eine Fahrkarte nach Wien, einfach«, erwiderte Steiner.
»Ging ja rasch«, sagte der Schaffner.
Steiner blickte auf. »Ich kenne das«, fuhr der Schaffner fort. »Jeden Tag kommen ein paar solcher Transporte – da kennt man die Beamten bald. Es ist ein Kreuz. Sie sind in diesem Waggon herausgefahren, das wissen Sie wohl nicht mehr?«
»Ich wei? uberhaupt nicht, wovon Sie reden.«
Der Schaffner lachte. »Sie werden es schon wissen. Stellen Sie sich hinten auf die Plattform. Wenn ein Kontrolleur kommt, springen Sie ab. Wahrscheinlich kommt keiner um diese Zeit. Sie sparen so die Fahrkarte.«
»Schon.«
Steiner stand auf und ging nach hinten. Er spurte den Wind und sah die Lichter der kleinen Weindorfer voruber?iegen. Er atmete tief und geno? den starksten Rausch, den es gibt: den Rausch der Freiheit. Er fuhlte das Blut in seinen Adern und die warme Kraft seiner Muskeln. Er lebte. Er war nicht gefangen; er lebte, er war entkommen.
»Nimm eine Zigarette, Bruder«, sagte er zu dem Schaffner, der nach hinten gekommen war.
»Meinetwegen. Ich darf sie nur jetzt nicht rauchen. Dienst.«
»Aber ich darf meine jetzt rauchen?«
»Ja.« Der Schaffner lachte gutmutig. »Das hast du mir voraus.«
»Ja«, sagte Steiner und zog den wurzigen Rauch in die Lungen ein. »Das habe ich dir voraus.«