Kern blickte sich um. Er sah gebeugte Nacken und zuruckgelegte, wei? schimmernde Gesichter, er sah Trauer, Verzwei?ung und die sanfte Verklarung, die die Melodie der Geige fur einige Augenblicke daruber breitete – er sah es, und er dachte an viele ahnliche Raume, die er schon gesehen hatte, angefullt mit Ausgesto?enen, deren einziges Verschulden es war, geboren worden zu sein und zu leben. Das gab es, und diese Musik gab es zu gleicher Zeit. Es schien unbegrei?ich. Es war ein unendlicher Trost und ein furchtbarer Hohn zugleich. Kern sah, da? der Kopf des Geigers auf der Geige lag wie auf der Schulter einer Geliebten. Ich will nicht untergehen, dachte er, indes die Dammerung immer tiefer wurde in dem gro?en Raum, ich will nicht untergehen, das Leben ist wild und su?, ich kenne es noch nicht, es ist eine Melodie, ein Ruf, ein Schrei uber fernen Waldern, uber unbekannten Horizonten, in unbekannten Nachten, ich will nicht untergehen!
Erst nach einiger Zeit merkte er, da? es still geworden war. »Was war das?« fragte das Madchen.
»Das waren die deutschen Tanze von Franz Schubert«, sagte der Geiger heiser.
Der alte Mann neben ihm lachte auf. »Deutsche Tanze!« Er strich sich uber die Narbe auf seiner Stirn. »Deutsche Tanze«, wiederholte er.
Der Sekretar schaltete das Licht von der Tur her an. »Der nachste…«, sagte er.
KERN BEKAM EINE Anweisung fur einen Schlafplatz im Hotel Bristol und zehn E?karten fur die Mensa am Wenzelsplatz. Er lief fast durch die Stra?en, aus Angst, da? er zu spat kame.
Er hatte sich nicht geirrt. Alle Platze in der Mensa waren besetzt, und er mu?te noch warten. Unter den Essenden sah er einen seiner fruheren Universitatsprofessoren. Er wollte schon auf ihn zugehen und ihn begru?en; aber dann besann er sich und lie? es. Er wu?te, da? viele Emigranten nicht an ihr fruheres Leben erinnert werden wollten.
Nach einer Weile sah er den Geiger kommen und unschlussig umherstehen. Er winkte ihm. Der Geiger sah ihn erstaunt an und kam langsam heruber. Kern wurde verwirrt. Er hatte, als er ihn wiedersah, geglaubt, den Geiger schon lange zu kennen; jetzt ?el ihm ein, da? sie noch nicht einmal miteinander gesprochen hatten.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich habe Sie vorhin spielen horen, und ich dachte, Sie wu?ten vielleicht nicht Bescheid hier.«
»Das wei? ich auch nicht. Sie?«
»Ja. Ich war schon zweimal hier. Sind Sie noch nicht lange drau?en?«
»Vierzehn Tage. Ich bin heute hier angekommen.«
Kern sah, da? der Professor und jemand neben ihm aufstanden. »Da werden zwei Platze frei«, sagte er rasch. »Kommen Sie!«
Sie drangten sich zwischen den Tischen durch. Der Professor kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Er blickte Kern zweifelnd an und blieb stehen. »Kenne ich Sie nicht?«
»Ich war einer Ihrer Schuler«, sagte Kern.
»Ach so, ja…« Der Professor nickte. »Sagen Sie, wissen Sie vielleicht Leute, die Staubsauger brauchen konnten? Mit zehn Prozent Rabatt und Ratenzahlung? Oder Grammophone mit eingebautem Radio?«
Kern war nur einen Augenblick uberrascht. Der Professor war eine Autoritat in der Krebsforschung gewesen. »Nein, leider nicht«, sagte er mitleidig. Er wu?te, was es hie?, Staubsauger und Grammophone verkaufen zu wollen.
»Ich hatte es mir denken konnen.« Der Professor sah ihn abwesend an. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er dann, als sprache er zu jemand ganz anderem, und ging weiter.
Es gab Graupensuppe mit Rind?eisch. Kern loffelte seinen Teller rasch leer. Als er aufschaute, sa? der Geiger da, die Hande auf den Tisch gelegt, den Teller unberuhrt vor sich.
»Essen Sie nicht?« fragte Kern erstaunt.
»Ich kann nicht.«
»Sind Sie krank?« Der Birnenschadel des Geigers sah sehr gelb und farblos aus unter dem kalkigen Licht der schirmlosen Deckenlampen.
»Nein.«
»Sie sollten essen«, sagte Kern.
Der Geiger antwortete nicht. Er zundete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Dann schob er seinen Teller beiseite. »So kann man nicht leben!« stie? er schlie?lich hervor.
Kern sah ihn an. »Haben Sie keinen Pa??« fragte er.
»Doch. Aber…« Der Geiger zerdruckte nervos eine Zigarette. »So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Fu?en!«
»Mein Gott!« sagte Kern. »Sie haben einen Pa?, und Sie haben Ihre Geige…«
Der Geiger blickte auf. »Das hat doch nichts damit zu tun«, erwiderte er gereizt. »Begreifen Sie das nicht?«
»Doch.«
Kern war ma?los enttauscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, mu?te etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher funfzehn Jahre alter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.
»Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?« fragte er.
»Nein.«
»Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.«
Der Geiger schob sie ihm hin. Kern a? sie langsam auf. Jeder Loffel voll war Kraft, dem Elend zu widerstehen, und er wollte nichts davon verlieren. Dann stand er auf. »Ich danke Ihnen fur die Suppe. Ich hatte lieber gehabt, Sie hatten sie selbst gegessen.«
Der Geiger sah ihn an. Sein Gesicht war von Falten zerrissen. »Das verstehen Sie noch nicht«, sagte er ablehnend.
»Das ist leichter zu verstehen, als Sie glauben«, erwiderte Kern. »Sie sind unglucklich, weiter nichts.«
»Weiter nichts?«
»Nein. Man meint anfangs, es sei etwas Besonderes. Aber Sie werden es schon merken, wenn Sie langer drau?en sind. Ungluck ist das Alltaglichste, was es gibt.«
Er ging hinaus. Zu seiner Verwunderung sah er drau?en, auf der andern Seite der Stra?e, den Professor hin- und herwandern. Er hatte die charakteristische Haltung, die Hande auf dem Rucken, den Korper etwas vorgebeugt, die er annahm, wenn er vor dem Katheder auf- und abschritt, um irgendeine neue verwickelte Entdeckung auf dem Gebiet der Krebsforschung zu erlautern. Nur, da? er jetzt vielleicht an Staubsauger und Grammophone dachte.
Kern zogerte eine Sekunde. Er hatte den Professor nie angesprochen. Doch jetzt, nachdem er den Geiger gesehen hatte, ging er zu ihm hinuber.
»Herr Professor«, sagte er,»entschuldigen Sie, da? ich Sie anspreche. Ich hatte nicht geglaubt, da? ich Ihnen jemals einen Rat geben konnte. Aber jetzt mochte ich es tun.«
Der Professor blieb stehen. »Gerne«, erwiderte er zerstreut. »Sehr gerne. Ich bin fur jeden Rat dankbar. Wie war doch Ihr Name?«
»Kern. Ludwig Kern.«
»Ich bin fur jeden Rat dankbar, Herr Kern. Ganz au?erordentlich dankbar, wirklich!«
»Es ist kaum ein Rat. Nur etwas Erfahrung. Sie versuchen, Staubsauger und Grammophone zu verkaufen. Lassen Sie es. Es ist Zeitverschwendung. Hunderte von Emigranten versuchen das hier. Es ist ebenso sinnlos, wie Lebensversicherungen abschlie?en zu wollen.«
»Das wollte ich gerade nachstens versuchen«, unterbrach ihn der Professor lebhaft. »Jemand hat mir gesagt, es ware leicht, und es ware etwas damit zu verdienen.«
»Er hat Ihnen eine Provision fur jeden Abschlu? angeboten, nicht wahr?«
»Ja, naturlich, eine gute Provision.«
»Aber sonst nichts? Keine Spesen und kein Fixum?«
»Nein, das nicht.«
»Das kann ich Ihnen auch anbieten. Es bedeutet gar nichts. Herr Professor, haben Sie schon einen Staubsauger verkauft? Oder ein Grammophon?«
Der Professor sah hil?os auf. »Nein«, sagte er sonderbar beschamt,»aber ich hoffe, in der nachsten