»Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?«

»Ja.«

»Schon.« Steiner zog an seiner Zigarette. »Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschu? ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.

Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar fur die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, da? er nur noch stohnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hatte es getan, wenn ich gewu?t hatte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir a?en sie. Waren furchtbar hungrig. Und wahrend ich fra? wie ein hei?hungriges Vieh, selbstvergessen mit Genu? fra?, sah ich uber den Rand der Schussel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, da? er unter Qualen starb, zwei Stunden spater war er tot, und ich fra? und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.«

Er machte eine Pause.

»Ihr hattet eben schrecklichen Hunger«, sagte Kern.

»Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: da? neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spurst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spurst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht fur einen andern die Welt unter in Gebrull und Qual – und du spurst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwarts. Und so schnell ruckwarts. Glaubst du’s?«

»Nein«, sagte Kern.

Steiner lachelte. »Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.«

Er stand auf. »Ich will los. Zuruck. Der Zollner glaubt nicht, da? ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepa?t. Morgen fruh wird er wieder aufpassen. Da? ich inzwischen ’ruberrucken konnte, geht nicht in seinen Kopf. Zollnerpsychologie. Gottlob ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit kluger als der Jager. Wei?t du warum?«

»Nein.«

»Weil fur ihn mehr auf dem Spiel steht.« Er schlug Kern auf die Schulter. »Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr scharft die Sinne.«

Er gab Kern die Hand. Sie war gro? und trocken und warm. »Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends ofter im Cafe Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.«

Kern nickte.

»Also mach’s gut. Und vergi? das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne da? man denken mu?. Ein hohes Ziel fur Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Ja? und Tarock. Im Poker mu?t du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.«

»Gut«, sagte Kern. »Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Fur alles.«

»Dankbarkeit mu?t du dir abgewohnen. Nein, gewohn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgultig. Bei dir. Warmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!«

»Und besser als tot.«

»Tot wei? ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!«

»Servus, Steiner!«

Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.

Kern sa? schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grun der Blatter bauschte sich uber ihm wie ein gro?es Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.

Kern beschlo? zu versuchen, nachts noch bis Pre?burg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er offnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strumpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wu?te, da? es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefangnis loszuwerden.

Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es uber. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

3

Kern kam nachmittags in Prag an. Er lie? seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebaude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenuber lag das Buro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. »Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?« fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.

»Ich wei? nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.«

»Aha! Kann sein, da? er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?«

»Es geht«, sagte der Mann. »Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.«

Kern uberlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee fur Fluchtlingshilfe fur ungefahr eine Woche E?- und Schlafkarten bekommen, das wu?te er von fruher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, da? man ihn einsperrte und zuruck uber die Grenze schob.

»Sie sind dran«, sagte der Mann neben ihm.

Kern sah ihn an. »Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.«

»Gut.«

Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschlo? abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. »Wie war es?« fragte er.

»Zehn Tage!« Der Mann strahlte. »So ein Gluck! Und ohne zu fragen. Mu? gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur funf Tage.«

Kern gab sich einen Ruck. »Dann werde ich es auch versuchen.«

Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen muden Fischblick auf Kern. »Emigrant?«

»Ja.«

»Aus Deutschland gekommen?«

»Ja. Heute.«

»Irgendwelche Papiere?«

»Nein.«

Der Beamte nickte. Er lie? die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, da? in der perlmutternen Schale au?erdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glatten.

Kern wartete. Es schien ihm, als ware der Nagel des muden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu storen und argerlich zu machen. Er pre?te nur verstohlen die Hande auf dem Rucken fest aneinander.

Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. »Zehn Tage«, sagte er. »Sie konnen zehn Tage hier bleiben. Dann mussen Sie ’raus.«

Die Spannung in Kern loste sich jah. Er glaubte, er ?ele, aber er atmete nur tief. Dann fa?te er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. »Ich ware Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben konnte«, sagte er.

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