»Du kannst bei mir schlafen.«

»Wirklich? Das ware wunderbar. Ich hatte bis jetzt ein Zimmer bei einer judischen Familie. Aber heute mu?te ich ’raus. Sie haben zuviel Angst, jemand langer als zwei Tage zu behalten.«

»Bei mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich wohne weit drau?en. Wir konnen gleich aufbrechen. Du siehst aus, als brauchtest du Schlaf.«

»Ja«, sagte Kern. »Ich bin mude. Ich wei? nicht, warum.«

Steiner winkte dem Kellner. Der kam angaloppiert wie ein altes Schlachtro?, das schon lange Karren gezogen hat, beim Signal zum Sammeln. »Danke«, sagte er erwartungsvoll, schon bevor Steiner gezahlt hatte,»danke herzlichst, mein Herr!«

Er besah das Trinkgeld. »Ku?’ die Hand«, stammelte er uberwaltigt. »Ergebenster Diener, Herr Graf!«

»Wir mussen in den Prater«, sagte Steiner drau?en.

»Ich gehe uberall hin«, erwiderte Kern. »Ich bin schon wieder ganz munter.«

»Wir werden die Trambahn nehmen. Besser, wegen deines Koffers. Immer noch Toilettewasser und Seife?«

Kern nickte.

»Ich hei?e inzwischen anders; kannst mich aber ruhig weiter Steiner nennen. Ich fuhre den Namen fur alle Zufalle als Kunstlernamen. Kann dann immer behaupten, er sei ein Pseudonym. Oder der andere sei eines. Je nachdem.«

»Was bist du denn jetzt?«

Steiner lachte. »Eine Zeitlang war ich Aushilfskellner. Als der fruhere dann aus dem Hospital zuruckkam, mu?te ich ’raus. Jetzt bin ich Assistent des Vergnugungsetablissements Potzloch. Schie?budenhengst und Hellseher. Was hast du vor, hier?«

»Nichts.«

»Vielleicht kann ich dich bei uns unterbringen. Es werden gelegentlich immer Leute zur Aushilfe gebraucht. Werde morgen mal dem alten Potzloch auf die Bude rucken. Der Vorteil ist, da? niemand im Prater kontrolliert. Brauchst nicht einmal angemeldet zu werden.«

»Mein Gott«, sagte Kern,»das ware gro?artig. Ich mochte jetzt gern eine Zeitlang in Wien bleiben.«

»So?« Steiner sah ihn schrag von der Seite an. »Mochtest du?«

»Ja.«

Sie stiegen aus und gingen durch den nachtlichen Prater. Vor einem Wohnwagen, etwas abseits von der Rummelplatzstadt, blieb Steiner stehen. Er schlo? auf und zundete eine Lampe an.

»So, Baby, da sind wir. Jetzt werden wir dir zunachst einmal eine Art Bett zaubern.«

Er holte ein paar Decken und eine alte Matratze aus einem Winkel und breitete sie neben seinem Bett auf dem Boden aus. »Du hast sicher Hunger, was?« fragte er.

»Ich wei? es schon nicht mehr.«

»In dem kleinen Kasten ist Brot, Butter und ein Stuck Salami. Mach mir auch ein Brot zurecht.«

Es klopfte leise an die Tur. Kern legte das Messer weg und lauschte. Seine Augen suchten das Fenster. Steiner lachte. »Die alte Angst, Kleiner, was? Werden wir sicher nie wieder los. Komm herein, Lilo!« rief er.

Eine schlanke Frau trat ein und blieb an der Tur stehen. »Ich habe Besuch«, sagte Steiner. »Ludwig Kern. Jung, aber schon erfahren in der Fremde. Er bleibt hier. Kannst du uns etwas Kaffee machen, Lilo?«

»Ja.«

Die Frau nahm einen Spirituskocher, zundete ihn an, stellte einen kleinen Kessel mit Wasser darauf und begann, Kaffee zu mahlen. Sie machte das alles fast gerauschlos, mit langsamen, gleitenden Bewegungen.

»Ich dachte, du schliefest langst, Lilo«, sagte Steiner.

»Ich kann nicht schlafen.«

Die Frau hatte eine tiefe, heisere Stimme. Ihr Gesicht war schmal und regelma?ig. Das schwarze Haar hatte sie in der Mitte gescheitelt. Sie sah aus wie eine Italienerin, aber sie sprach das harte Deutsch der Slawen.

Kern sa? auf einem zerbrochenen Rohrstuhl. Er war sehr mude, nicht nur im Kopf – eine schlafrige Entspannung, wie seit langem nicht, war uber ihn gekommen. Er fuhlte sich geborgen.

»Ein Kissen«, sagte Steiner. »Das einzige, was fehlt, ist ein Kissen.«

»Das macht nichts«, erwiderte Kern. »Ich lege meine Jacke zusammen oder etwas Unterzeug aus meinem Koffer.«

»Ich habe ein Kissen«, sagte die Frau.

Sie bruhte den Kaffee auf, dann erhob sie sich und ging mit ihren schattenhaften, lautlosen Bewegungen hinaus.

»Komm, i?!« sagte Steiner und go? Kaffee in zwei henkellose Tassen mit blauem Zwiebelmuster.

Sie a?en das Brot und die Wurst… Die Frau kam wieder herein und brachte ein Kissen mit. Sie legte es auf das Lager Kerns und setzte sich an den Tisch.

»Willst du keinen Kaffee, Lilo?« fragte Steiner.

Sie schuttelte den Kopf. Sie sah still den beiden zu, wahrend sie a?en und tranken. Dann stand Steiner auf. »Zeit zum Schlafen. Bist doch mude, Kleiner, was?«

»Ja. Jetzt allmahlich wieder.«

Steiner strich der Frau uber das Haar. »Geh auch schlafen, Lilo…«

»Ja.« Sie stand gehorsam auf. »Gute Nacht…«

Kern und Steiner legten sich zu Bett. Steiner loschte die Lampe aus. »Wei?t du«, sagte er nach einer Weile aus dem warmen Dunkel hervor,»man soll so leben, als ob man nie mehr zuruckkame nach druben.«

»Ja«, erwiderte Kern. »Fur mich ist das nicht schwer.«

Steiner zundete sich eine Zigarette an. Er rauchte langsam. Der rotliche Lichtpunkt glomm jedesmal heller auf, wenn er den Rauch einatmete. »Willst du auch eine haben?« fragte er. »Sie schmecken ganz anders im Dunkeln.«

»Ja.« Kern fuhlte Steiners Hand, die ihm das Paket und die Streichholzer hinuberreichte.

»Wie war es in Prag?« fragte Steiner.

»Gut.« Kern wartete und rauchte. Dann sagte er:»Ich habe jemand da getroffen.«

»Bist du deshalb jetzt nach Wien gekommen?«

»Nicht nur deshalb. Aber sie ist auch in Wien.«

Steiner lachelte im Dunkeln. »Bedenke, da? du ein Wanderer bist, Baby. Wanderer sollen Abenteuer haben; aber nichts, was ihnen ein Stuck Herz wegrei?t, wenn sie fort mussen.«

Kern schwieg.

»Das sagt nichts gegen die Abenteuer«, fugte Steiner hinzu. »Auch nichts gegen das Herz. Am allerwenigsten aber gegen die, die uns ein bi?chen Warme unterwegs geben. Nur etwas gegen uns, vielleicht. Weil man nimmt – und wenig zuruckgeben kann.«

»Ich glaube, ich kann gar nichts zuruckgeben.« Kern fuhlte sich plotzlich sehr mutlos. Was wu?te er schon? Und was konnte er Ruth schon geben? Nur sein Gefuhl. Und das schien ihm nichts zu sein. Er war jung und unwissend, das war alles.

»Gar nichts ist viel mehr als ein wenig, Baby«, sagte Steiner ruhig. »Es ist schon beinahe alles.«

»Es kommt darauf an, von wem…«

Steiner lachelte. »Hab keine Angst, Baby. Alles ist richtig, was man fuhlt. Wirf dich hinein. Aber bleib nicht hangen.« Er druckte seine Zigarette aus. »Schlaf gut. Morgen gehen wir zu Potzloch…«

»Danke. Ich werde sicher gut schlafen hier…«

Kern legte seine Zigarette beiseite und wuhlte den Kopf in das Kissen der fremden Frau. Er war immer noch mutlos; aber auch fast glucklich.

9

Direktor Potzloch war ein behendes kleines Mannchen mit einem zausigen Schnurrbart, einer riesigen Nase und einem Kneifer, der ewig rutschte. Er war immer in gro?er Eile; am meisten, wenn nichts zu tun war.

»Was ist los? Schnell!« fragte er, als Steiner mit Kern zu ihm kam.

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