Aber fast alle Russen haben langst ihre Sachen abgegeben, die sie hatten. Sie tragen nur noch erbarmliches Zeug und versuchen kleine Schnitzereien und Gegenstande, die sie aus Granatsplittern und Stucken von kupfernen Fuhrungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Muhe gemacht haben – sie gehen fur ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zah und schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier bla? wird und die Augen verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken 174 ihre Beute mit all der Umstandlichkeit, deren sie fahig sind, holen ihr dickes Taschenmesser heraus, schneiden langsam und bedachtig fur sich selber einen Ranken Brot von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu sehen, man mochte ihnen auf die dicken Schadel trommeln. Sie geben selten etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
Ich bin ofter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Storche, wie gro?e Vogel. Sie kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So atmen sie den Wind, der von der Heide und den Waldern herkommt.
Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher und, ich mochte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglucklicher fuhlen als wir. Dabei ist fur sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist ja auch kein Leben.
Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzahlen, da? sie anfangs lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhaltnisse untereinander, und es soll oft mit Fausten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind sie schon ganz stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist, da? sie es sogar barackenweise tun.
Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich wei? nichts von ihnen, als da? sie Gefangene sind, und gerade das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; – wu?te ich mehr von ihnen, wie sie hei?en, wie sie leben, was sie erwarten, was sie bedruckt, so hatte meine Erschutterung ein Ziel und konnte zu Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl konnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser hochstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre hochste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den Apostelbarten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf sie schie?en und sie auf uns, wenn sie frei waren.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschlie?en, bis der Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Gro?e, das Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als Daseinsmoglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen Gesichtern rote Punkte. Sie trosten mich; es sieht aus, als waren es kleine Fensterchen in dunklen Dorfhausern, die verraten, da? dahinter Zimmer voll Zuflucht sind.
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe begraben; es sterben ja jetzt fast taglich welche. Ich bin gerade auf Wache, als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen vielstimmig, und es klingt, als waren es kaum noch Stimmen, als ware es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den Birkenwaldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzahlt, da? er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hort, da? ich etwas Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt. Die andern setzen sich und lehnen die Rucken an das Gitter. Er steht und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie die Augen schlie?en, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus und lachelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit.
Es sind dunkle Hugel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein schlankes Madchen daruber und ist hell und allein. Die Stimmen horen auf, und die Geige bleibt – sie ist dunn in der Nacht, als friere sie; man mu? dicht danebenstehen, es ware in einem Raum wohl besser; – hier drau?en wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst gro?eren Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein Vater und meine alteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden qualen sich hin; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen. So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs, sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnachst operiert. Die Arzte hoffen, da? sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehort, da? Krebs geheilt worden ist.
»Wo liegt sie denn?« frage ich.
»Im Luisenhospital«, sagt mein Vater.
»In welcher Klasse?«
»Dritter. Wir mussen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hatte sie etwas Unterhaltung. Es ist auch billiger.«
»Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts schlafen kann.«
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen, wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld fur uns gekostet, und das Leben meines Vaters ist eigentlich daruber hingegangen. »Wenn man blo? wu?te, wieviel die Operation kostet«, sagt er.
»Habt ihr nicht gefragt?«
»Nicht direkt, das kann man nicht – wenn der Arzt dann unfreundlich wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll.«
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar daruber; aber die andern, die es nicht notig haben, die finden es selbstverstandlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt auch nicht unfreundlich sein.
»Die Verbande hinterher sind auch so teuer«, sagt mein Vater.
»Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?« frage ich.
»Mutter ist schon zu lange krank.«
»Habt ihr denn etwas Geld?«
Er schuttelt den Kopf. »Nein. Aber ich kann jetzt wieder Uberstunden machen.«
Ich wei?: er wird bis zwolf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karten beziehen. Hinterher wird er ein Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzahle ich ihm einige Geschichten, die mir gerade einfallen, Soldatenwitze und so