Weg.
Plotzlich horte ich rufen. »Telefon!«
Ich drehte mich um. »Telefon. Soll ich hingehen?«
Der Arzt sprang auf. »Nein, ich. Ich kann ihn besser fragen. Bleiben Sie hier. Tun Sie nichts weiter. Ich komme sofort wieder.«
Ich setzte mich zu Pat an das Bett. »Pat«, sagte ich leise. »Wir sind alle da. Wir passen auf. Es wird dir nichts passieren. Es darf dir nichts passieren. Der Professor spricht jetzt schon. Er sagt uns alles. Morgen kommt er sicher selbst. Er wird dir helfen. Du wirst gesund werden. Weshalb hast du mir denn nie etwas davon gesagt, da? du noch krank bist? Das bi?chen Blut ist nicht schlimm, Pat. Wir geben es dir wieder. Koster hat den Professor geholt, jetzt ist alles gut, Pat.«
Der Arzt kam zuruck. »Es war nicht der Professor…«
Ich stand auf.
»Es war ein Freund von Ihnen, Lenz.«
»Koster hat ihn nicht gefunden?«
»Doch. Er hat ihm Anweisungen gegeben. Ihr Freund Lenz hat sie mir telefoniert. Ganz klar und richtig sogar. Ist Ihr Freund Lenz Arzt?«»Nein. Er wollte es werden. Und Koster?« Der Arzt sah mich an. »Lenz hat telefoniert, Koster sei vor wenigen Minuten abgefahren. Mit dem Professor.« Ich mu?te mich anlehnen. »Otto«, sagte ich. »Ja«, fugte der Arzt hinzu,»das ist das einzige, was er falsch gesagt hat. Er hat gemeint, sie waren in zwei Stunden hier. Ich kenne die Strecke. Sie brauchen bei scharfster Fahrt uber drei Stunden. Immerhin…«
»Doktor«, erwiderte ich,»Sie konnen sich darauf verlassen. Wenn er sagt zwei Stunden, dann ist er in zwei Stunden hier.«
»Es ist unmoglich. Die Strecke ist kurvig, und es ist Nacht.«
»Warten Sie ab«, sagte ich.
»Immerhin – wenn er dann hier ist – es ist besser, da? er kommt.«
Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich ging ins Freie. Drau?en war es neblig geworden. Das Meer rauschte in der Ferne. Von den Baumen tropfte es. Ich sah mich um. Ich war nicht mehr allein. Hinter dem Horizont im Suden heulte jetzt ein Motor. Hinter den Nebeln raste die Hilfe uber die blassen Stra?en, die Scheinwerfer spritzten Licht, die Reifen pfiffen und zwei Hande hielten eisern das Steuer, zwei Augen bohrten sich in das Dunkel, kalt, beherrscht: die Augen meines Freundes – Spater horte ich von Jaffe, wie es gewesen war.
Koster hatte sofort nach dem Anruf Lenz telefoniert, er solle sich bereit halten. Dann hatte er Karl geholt und war mit Lenz zur Klinik Jaffes gerast. Die Stationsschwester nahm an, der Professor sei zum Abendessen gegangen. Sie nannte Koster eine Anzahl Lokale, in den er vielleicht zu treffen ware. Koster fuhr los. Er uberfuhr alle Verkehrszeichen – er kummerte sich nicht um die heransturzenden Schupos. Er ri? den Wagen wie ein Pferd durch den Verkehr. Im vierten Lokal fand er den Professor.
Jaffe erinnerte sich sofort. Er lie? sein Essen stehen und kam gleich mit. Sie fuhren zu seiner Wohnung, um die notwendigsten Sachen zu holen. Dies war die einzige Strecke, die Koster zwar schnell fuhr, aber nicht raste. Er wollte den Arzt nicht vorzeitig erschrecken. Unterwegs fragte Jaffe, wo Pat liege. Koster nannte einen vierzig Kilometer entfernt liegenden Ort. Er wollte den Professor nur erst einmal im Wagen haben. Alles Weitere ergab sich dann von selbst. Wahrend Jaffe seine Tasche packte, gab er Lenz Anweisung, was zu telefonieren sei. Dann stieg er zu Koster ein.
»Ist es gefahrlich?« fragte Koster.
»Ja«, sagte Jaffe.
In diesem Augenblick verwandelte sich Karl in ein wei?es Gespenst. Er sprang mit einem Satz vom Start und fegte los. Er zwangte sich durch, er fuhr mit zwei Radern uber den Burgersteig, er jagte in falscher Richtung durch Einbahnstra?en, er suchte den kurzesten Weg aus der Stadt heraus.
»Sind Sie verruckt?« rief der Professor. Koster scho? unter den hohen Sto?stangen eines Omnibusses schrag hinweg, verringerte das Gas einen Moment und lie? den Motor wieder aufheulen.
»Fahren Sie langsamer«, schrie der Arzt,»was nutzt es Ihnen, wenn wir einen Unfall haben.«
»Wir werden keinen Unfall haben.«
»Wenn Sie so weiterfahren, in zwei Minuten.«
Koster ri? den Wagen links an einer Elektrischen vorbei.
»Wir werden keinen Unfall haben.« Er hatte jetzt eine lange Stra?e zu fassen. Er sah den Arzt an. »Ich wei? selbst, da? ich Sie heil hinbringen mu?. Verlassen Sie sich darauf, da? ich so fahre.«
»Aber was nutzt Ihnen die Raserei schon! Sie holen ein paar Minuten heraus.«
»Nein«, sagte Koster und wich einem Lastwagen mit Steinen aus,»wir haben noch zweihundertvierzig Kilometer zu fahren.«
»Was?«
»Ja…« Der Wagen drehte sich zwischen einem Postauto und einem Autobus durch -»Ich wollte es Ihnen vorhin nicht sagen.«
»Das ware egal gewesen«, knurrte Jaffe,»ich richte meine Hilfe nicht nach Kilometern. Fahren Sie zum Bahnhof. Wir kommen mit der Eisenbahn schneller hin.«
»Nein.« Koster hatte die Vorstadt erreicht. Der Wind ri? ihm die Worte vom Mund. »Schon erkundigt – Zug fahrt zu spat…« Er sah Jaffe noch einmal an, und der Arzt mu?te wohl irgendwas in seinem Gesicht gesehen haben. »In Gottes Namen«, brummte er. »Ihre Freundin?«
Koster schuttelte den Kopf. Er antwortete nicht mehr. Er hatte die Schrebergarten hinter sich und kam auf die Landstra?e. Der Wagen fuhr jetzt mit vollen Touren. Der Arzt kroch hinter der schmalen Windschutzscheibe zusammen. Koster schob ihm seine Lederhaube hin. Die Hupe rohrte ununterbrochen. Die Walder warfen den Schrei zuruck. Koster ging in den Dorfern mit dem Tempo nur herunter, wenn es gar nicht anders ging. Hinter dem donnernden Widerhall der ungedrosselten Explosionen schlugen die Hauserreihen zusammen wie Schattentucher, der Wagen wischte hindurch, ri? sie in die fahle Helle seiner Scheinwerfer und fra? sich weiter mit dem Lichtstrudel vor sich durch die Nacht. Die Reifen begannen zu knarren – zu zischen – zu heulen – zu pfeifen – der Motor gab jetzt alles her, was er hatte. Koster lag nach vorn geduckt, sein Korper war ein einziges gewaltiges Ohr, ein Filter, der das Donnern und Pfeifen auf Gerausche durchsiebte und auf der Lauer lag nach jedem winzigen Nebenlaut, jedem verdachtigen Schurren und Schleifen, das die Panne und den Tod bergen konnte.
Die Stra?e wurde feucht. Auf der lehmigen Stra?e schwanzelte der Wagen und schleuderte. Koster mu?te mit dem Tempo herunter. Dafur ging er nachher noch scharfer in die Kurven. Er fuhr nicht mehr mit dem Kopf; er fuhr nur noch mit dem Instinkt. Die Scheinwerfer leuchteten die Kurven nur zur Halfte aus. In dem Moment, wo der Wagen drehte, war die Kurve schwarz und ohne Sicht. Koster half sich mit dem Sucher; aber der Strahl war sehr schmal. Der Arzt schwieg. Plotzlich flirrte die Luft vor den Scheinwerfern, sie bekam Farbe, blasses Silber, wolkige Schleier. Es war der einzige Augenblick, wo Jaffe Koster fluchen horte. Eine Minute spater waren sie im dichten Nebel.
Koster blendete die Scheinwerfer ab. Sie schwammen in Watte, Schatten huschten hindurch, Baume, undeutliche Schemen in einem milchigen Meer, es gab keine Stra?e mehr, nur Zufall und Ungefahr, Schatten, die wuchsen und schwanden im Gebrull des Motors.
Als sie nach zehn Minuten herauskamen, war Kosters Gesicht verfallen. Er sah Jaffe an und murmelte etwas. Dann ging er mit vollem Gas weiter, geduckt, kalt und wieder beherrscht…
Wie Blei brutete die klebrige Warme in der Stube. »Hort es noch nicht auf?« fragte ich.
»Nein«, sagte der Arzt.
Pat sah mich an. Ich lachelte ihr zu. Es wurde eine Grimasse. »Noch eine halbe Stunde«, sagte ich.
Der Arzt blickte auf. »Noch anderthalb Stunden, wenn nicht zwei. Es regnet.«
Die Tropfen rauschten leise singend in die Blatter und Busche des Gartens. Ich sah mit geblendeten Augen hinaus. Wie lange war das her, da? wir nachts aufgestanden waren und uns zwischen Levkojen und Goldlackbusche gekauert hatten und Pat kleine Kinderlieder gesummt hatte. Wie lange war es her, da? der Weg wei? im Mond leuchtete und Pat wie ein schmales Tier zwischen den Buschen entlanglief…
Ich ging zum hundertsten Male vor die Tur. Es war sinnlos, ich wu?te es; aber es verkurzte das Warten. Die Luft war diesig. Ich fluchte; ich wu?te, was das fur Koster hie?. Ein Vogel schrie durch den Dunst. »Halt's Maul!« knurrte ich. Die Geschichten von Totenvogeln fielen mir ein. »Unsinn«, sagte ich laut und frostelte trotzdem. Ein Kafer summte irgendwo – aber er kam nicht naher – er kam nicht naher. Er summte gleichma?ig leise; jetzt setzte er einmal aus – jetzt war er wieder da – jetzt noch einmal – ich zitterte plotzlich -, das war kein Kafer, das war ein