»Alles in Ordnung drinnen?« fragte Otto.
»Ja, was man sehen kann. Hat den richtigen Schlaf, der Professor. Pennt bei Trommelfeuer, aber erwacht, wenn eine Maus an seinem Brotbeutel knabbert.«
»Wir konnen baden gehen«, sagte Koster. »Wunderbare Luft hier.« Er dehnte sich.
»Geh du«, sagte ich.
»Komm mit«, erwiderte er.
Der graue Himmel zerri?. Orangerote Streifen quollen hindurch. Am Horizont hob sich der Wolkenvorhang, und dahinter erschien ein sehr klares Apfelgrun.
Wir sprangen ins Wasser und schwammen. Das Wasser leuchtete in Grau und Rot.
Dann gingen wir zuruck. Fraulein Muller war schon auf. Sie schnitt Petersilie im Garten. Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach. Verlegen versuchte ich ihr klarzumachen, da? ich gestern wohl etwas zuviel geflucht hatte. Sie fing an zu weinen. »Die arme Dame. Sie ist so schon und noch so jung.«
»Sie wird hundert Jahre alt«, sagte ich argerlich, weil sie weinte, als musse Pat sterben. Pat wurde nicht sterben. Der kuhle Morgen, der Wind, das helle meergepeitschte Leben in mir: Pat konnte nicht sterben. Sie konnte nur sterben, wenn ich den Mut verlor. Da stand Koster, mein Kamerad – da stand ich, Pats Kamerad -, erst mu?ten
»Man mu? demutig gegen das Schicksal sein«, sagte das alte Fraulein und sah mich mit seinem braunen, verrunzelten Bratapfelgesicht etwas vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich meinte sie meine Schimpferei.
»Demutig?« sagte ich. »Wozu demutig? Es nutzt ja nichts. Man mu? alles bezahlen im Leben, doppelt und dreifach. Wozu soll man da demutig sein?«
»Doch, doch – es ist besser.«
Demutig, dachte ich. Was anderte das? Kampfen, kampfen, das war das einzige in dieser Balgerei, in der man zuletzt doch unterlag. Kampfen um das bi?chen, was man liebte. Demutig konnte man mit siebzig Jahren werden.
Koster sprach ein paar Worte mit ihr. Sie lachelte rasch wieder und fragte ihn, was er zu Mittag essen wolle.
»Siehst du«, sagte Otto,»das ist das Geschenk des Alters. Tranen und Lachen – alles wechselt schnell. Ohne Widerhaken.
Das sollte man auch fur sich vorwegnehmen«, meinte er nachdenklich.
Wir strichen um das Haus herum. »Gut fur jede Minute, die sie schlaft«, sagte ich. Wir gingen wieder in den Garten. Fraulein Muller hatte ein Fruhstuck fertiggemacht. Wir tranken hei?en schwarzen Kaffee. Die Sonne ging auf. Es wurde sofort warm. Die Blatter der Baume funkelten von Licht und Nasse. Vom Meer horte man das Schreien der Mowen. Fraulein Muller stellte einen Busch Rosen auf den Tisch. »Den wollen wir ihr nachher geben«, sagte sie. Die Rosen dufteten nach Gartenmauer und Kindheit. »Wei?t du, Otto«, sagte ich,»ich habe ein Gefuhl, als ware ich selber krank gewesen. Man ist doch nicht mehr wie fruher. Ich hatte ruhiger sein mussen. Uberlegter. Je ruhiger man sich halt, um so besser kann man helfen.«
»Geht nicht immer, Robby. Habe auch so Zeiten gehabt. Je langer man lebt, um so nervoser wird man. Das ist wie bei einem Bankier, der immer neue Verluste hat.«
Da ging die Tur. Jaffe kam im Pyjama heraus. »Gut, gut«, winkte er ab, als er sah, da? ich fast den Kaffeetisch umwarf,»so gut es moglich ist.«
»Darf ich 'rein?«
»Noch nicht. Jetzt ist erst das Madchen drin. Waschen und so was.«
Ich schenkte ihm Kaffee ein. Er blinzelte in die Sonne und wandte sich an Koster. »Eigentlich sollte ich Ihnen dankbar sein. So komme ich wenigstens einen Tag mal 'raus.«
»Das konnten Sie doch ofter machen«, sagte Koster. »Abends wegfahren und am nachsten Abend wieder zuruck.«
»Konnen, konnen«, antwortete Jaffe. »Haben Sie schon gemerkt, da? wir in einer Zeit der Selbstzerfleischung leben? Da? man vieles, was man tun konnte, trotzdem nicht tut, man wei? nicht, warum? Arbeit ist heute eine so ungeheure Sache geworden, weil so viele Menschen keine haben, da? sie alles andere erdruckt. Wie schon das hier ist! Seit ein paar Jahren habe ich das nicht gesehen. Ich habe zwei Autos, eine Zehnzimmerwohnung und genug Geld – was habe ich davon! Was ist das gegen diesen Sommermorgen im Freien! Arbeit – eine finstere Besessenheit – immer mit der Illusion, da? es spater mal anders wird. Es wird nie anders. Komisch, was man so aus seinem Leben macht.«
»Ich finde, ein Arzt ist einer der wenigen Menschen, die wissen, wozu sie leben«, sagte ich. »Was soll denn dann ein Buchhalter sagen?«
»Lieber Freund«, erwiderte Jaffe,»es ist ein Irrtum, anzunehmen, alle Menschen hatten die gleiche Empfindungsfahigkeit.«
»Richtig«, sagte Koster,»aber die Menschen haben ihre Berufe nicht nach ihrer Empfindungsfahigkeit bekommen.«
»Stimmt«, antwortete Jaffe. »Schwierige Dinge.« Er nickte mir zu. »Jetzt – aber ruhig, nicht anfassen, nicht sprechen lassen…«
Sie lag in den Kissen, ohne Kraft, wie hingeschlagen. Ihr Gesicht war verfarbt, blaue, tiefe Schatten lagerten unter den Augen, und der Mund war bla?. Nur die Augen waren gro? und glanzend.
Viel zu gro? und zu glanzend.
Ich nahm ihre Hand auf. Sie war kuhl und matt. »Pat, alter Bursche«, sagte ich verlegen und wollte mich zu ihr setzen. Da entdeckte ich am Fenster das Teiggesicht des Dienstmadchens, das mich neugierig anstarrte. »Gehen Sie mal 'raus«, sagte ich argerlich.
»Ich soll doch die Gardinen zuziehen«, erwiderte sie.
»Schon, machen Sie das und gehen Sie dann 'raus.«
Sie zog die gelben Vorhange vors Fenster. Aber sie ging noch immer nicht. Langsam begann sie die Vorhange mit Nadeln zuzustecken.
»Horen Sie«, sagte ich,»hier ist keine Theatervorstellung. Verschwinden Sie schleunigst.«
Sie drehte sich pomadig um. »Erst soll ich sie zustecken und dann wieder nicht.«
»Hast du ihr das gesagt?« fragte ich Pat.
Sie nickte.
»Tut dir das Licht von drau?en weh?« fragte ich.
Sie schuttelte den Kopf. »Besser, du siehst mich heute nicht so genau…«
»Pat!« sagte ich erschreckt,»du darfst noch nicht sprechen! Aber wenn das der ganze Grund ist…«
Ich machte die Tur auf, und das Dienstmadchen verschwand endlich. Ich ging zuruck. Ich war jetzt nicht mehr verlegen. Ich war sogar ganz froh uber das Dienstmadchen. Es hatte mich uber den ersten Augenblick weggebracht. Es war doch eine verfluchte Sache gewesen, Pat so daliegen zu sehen.
Ich setzte mich neben das Bett. »Pat«, sagte ich,»bald bist du wieder durch…«
Sie bewegte den Mund. »Morgen schon…«
»Morgen noch nicht, aber in ein paar Tagen. Dann darfst du aufstehen, und wir fahren nach Hause. Wir hatten nicht hierherfahren sollen, die Luft ist viel zu rauh fur dich…«
»Doch«, flusterte sie,»ich bin ja nicht krank, Robby. Es war nur ein Unfall…«
Ich sah sie an. Wu?te sie denn wirklich nicht, da? sie krank war? Oder wollte sie es nicht wissen? Ihre Augen gingen unruhig hin und her. »Brauchst keine Angst zu haben…«, flusterte sie. Ich verstand nicht sofort, was sie meinte und weshalb es so wichtig war, da? gerade ich keine Angst haben sollte. Ich sah nur, da? sie erregt war, ihre Augen hatten einen eigentumlich gequalten, dringenden Ausdruck. Und plotzlich kam mir ein Gedanke. Ich begriff, was sie dachte. Sie glaubte, ich hatte Angst vor ihr, weil sie krank war. »Lieber Gott, Pat«, sagte ich,»ist das vielleicht der Grund, da? du mir nie etwas Genaues gesagt hast?«
Sie antwortete nicht, aber ich sah, da? es das war.
»Verdammt«, sagte ich,»wofur haltst du mich eigentlich?«
Ich beugte mich uber sie. »Lieg mal einen Augenblick ganz still, aber beweg dich nicht.« Ich ku?te sie. Ihre Lippen waren trocken und hei?. Als ich mich aufrichtete, sah ich, da? sie weinte. Sie weinte lautlos, mit weit offenen Augen, und ihr Gesicht bewegte sich nicht. Die Tranen sturzten nur so hervor.
»Um Gottes willen, Pat…«