Er begann mir die Einzelheiten zu erklaren. Beide Lungenflugel waren angegriffen, der rechte weniger, der linke starker. Dann unterbrach er sich und klingelte nach der Schwester.
»Holen Sie einmal meine Mappe.«
Die Schwester brachte sie. Jaffe nahm zwei gro?e Fotografien heraus. Er zog die knisternden Umschlage herab und hielt sie gegen das Fenster. »So sehen Sie es besser. Hier haben wir die Rontgenbilder.«
Ich sah die Wirbel eines Ruckens auf der durchscheinenden grauen Platte, die Schulterblatter, die Schlusselbeine, die Gelenkpfannen der Oberarme und die flachen Bogen der Rippen. Aber ich sah mehr als das – ich sah ein Skelett. Dunkel und gespenstisch hob es sich von den fahlen, ineinander verflie?enden Schatten der Aufnahme ab. Ich sah das Skelett von Pat. Das Skelett von Pat.
Jaffe zeichnete mit der Pinzette einzelne Linien und Verfarbungen auf der Platte nach und erklarte sie. Er merkte nicht, da? ich gar nicht mehr hinblickte. Die Grundlichkeit des Wissenschaftlers war uber ihn gekommen. Schlie?lich wandte er sich mir zu. »Haben Sie es verstanden?«
»Ja«, sagte ich.
»Was ist denn?« fragte er.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich kann das nur nicht gut sehen.«
»Ach so.« Er ruckte an seiner Brille. Dann schob er die Fotografien wieder in die Hullen zuruck und musterte mich forschend. »Machen Sie sich keine unnutzen Gedanken.«
»Das tue ich nicht. Aber es ist ein gottverdammtes Elend! Millionen Menschen sind gesund! Warum dieser eine nicht?«
Jaffe schwieg eine Weile.
»Darauf kann niemand eine Antwort geben«, sagte er dann.
»Ja«, erwiderte ich, plotzlich furchtbar erbittert und ganz taub vor Wut,»darauf kann niemand eine Antwort geben! Naturlich nicht! Auf das Elend und das Sterben kann niemand eine Antwort geben! Verflucht! Nicht einmal tun kann man etwas dagegen!«
Jaffe sah mich lange an. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Aber ich kann mir nichts vormachen. Das ist das Verfluchte.«
Er sah mich immer noch an. »Haben Sie etwas Zeit?« fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Genug.«
Er stand auf. »Ich mu? jetzt meine Abendvisite machen. Ich mochte, da? Sie mitkommen. Die Schwester wird Ihnen einen wei?en Mantel geben. Fur die Patienten gelten Sie dann als mein Assistent.«
Ich wu?te nicht, was er wollte; aber ich nahm den Mantel, den die Schwester mir hinhielt.
Wir gingen die langen Korridore entlang. Durch die breiten Fenster fiel rosig der Schein des Abends. Es war ein weiches, gedampftes, ganz unwirklich schwebendes Licht. Ein paar Fenster standen offen. Der Geruch von bluhenden Linden wehte herein.
Jaffe offnete eine Tur. Stickiger, fauler Geruch schlug uns entgegen. Eine Frau mit wunderbarem Haar in der Farbe von altem Gold, auf dem das Licht in hellen Reflexen schimmerte, hob matt die Hand. Die Stirn war edel und schmal an den Schlafen. Unter den Augen aber begann ein Verband. Er reichte bis zum Munde. Jaffe loste ihn vorsichtig. Ich sah, da? die Frau keine Nase mehr hatte. Sie hatte an ihrer Stelle eine krustige, schmierige rote Wunde mit zwei Lochern darin. Jaffe legte den Verband wieder daruber.
»Gut«, sagte er freundlich und wendete sich zum Gehen.
Er schlo? die Tur hinter sich. Ich blieb einen Augenblick drau?en stehen und sah in das weiche Licht des Abends.
»Kommen Sie!« sagte Jaffe und ging mir voran in das nachste Zimmer. Das hei?e Rasseln und Keuchen eines schwer Fiebernden drang uns entgegen. Es war ein Mann mit bleifarbenem Gesicht, in dem sonderbar grelle rote Flecken standen. Der Mund war aufgerissen, die Augen quollen hervor, und die Hande fuhren ruhelos auf der Decke hin und her. Der Mann war bewu?tlos. Die Fiebertafel zeigte durchgehend vierzig Grad. Eine Schwester sa? am Bett und las. Sie legte das Buch weg und stand auf, als Jaffe hereintrat. Er blickte auf die Tafel und schuttelte den Kopf. »Doppelte Lungenentzundung und Rippenfellentzundung. Wehrt sich seit einer Woche wie ein Stier. Ruckfall. War schon fast gesund. Zu fruh gearbeitet. Frau und vier Kinder. Aussichtslos.« Er horchte die Brust ab und prufte den Puls. Die Schwester half ihm. Dabei fiel ihr Buch zur Erde. Ich hob es auf und sah, da? es ein Kochbuch war. Der Mann im Bett kratzte unaufhorlich mit den spinnenartigen Handen uber die Decke. Es war der einzige Laut im Zimmer. »Bleiben Sie die Nacht hier, Schwester«, sagte Jaffe. Wir gingen hinaus. Die rosige Dammerung drau?en war farbiger geworden. Sie erfullte den Korridor jetzt wie eine Wolke.
»Verdammtes Licht«, sagte ich.
»Warum?« fragte Jaffe.
»Es geht nicht zusammen. Das eine und das andere.«
»Doch«, sagte Jaffe. »Es geht zusammen.«
Im nachsten Zimmer lag eine rochelnde Frau. Sie war nachmittags mit einer schweren Veronalvergiftung eingeliefert worden. Der Mann war am Tage vorher verungluckt. Er hatte sich die Wirbelsaule gebrochen und war der Frau schreiend bei vollem Bewu?tsein ins Haus gebracht worden. Dort war er nachts gestorben.
»Kommt sie durch?« fragte ich.
»Wahrscheinlich.«
»Wozu?«
»Ich hatte in den letzten Jahren funf ahnliche Falle«, sagte Jaffe. »Nur eine hat zum zweitenmal versucht, ein Ende zu machen. Mit Gas. Sie ist gestorben. Von den andern sind zwei wieder verheiratet.«
Im nachsten Zimmer lag ein Mann, der seit zwolf Jahren gelahmt war. Er hatte eine wachserne Haut, einen dunnen schwarzen Bart und sehr gro?e, stille Augen. »Wie geht es?« fragte Jaffe.
Der Mann machte eine unbestimmte Bewegung. Dann zeigte er auf das Fenster. »Sehen Sie den Himmel! Es wird Regen geben, ich spure es.« Er lachelte. »Man schlaft besser, wenn es regnet.« Vor ihm auf der Bettdecke stand ein ledernes Schachspiel mit feststeckbaren Figuren. Ein Haufen Zeitungen und ein paar Bucher lagen daneben.
Wir gingen weiter. Ich sah eine junge Frau mit entsetzten Augen und blauen Lippen, vollkommen zerrissen von einer schweren Geburt – ein verkruppeltes Kind mit verdrehten, schwachen Beinen und einem Wasserkopf – einen Mann ohne Magen – eine eulenhafte Greisin, die weinte, weil ihre Angehorigen sich nicht um sie kummerten; sie starb ihnen zu langsam – eine Blinde, die glaubte, da? sie wieder sehen wurde – syphilitisches Kind mit blutigem Ausschlag, und den Vater, der an seinem Bette sa? – eine Frau, der am Morgen die zweite Brust abgenommen worden war – eine andere, krumm gezogen von Gelenkrheumatismus – eine dritte, der die Eierstocke herausgeschnitten waren – einen Arbeiter mit zerquetschten Nieren – Zimmer um Zimmer ging es weiter, Zimmer um Zimmer war es dasselbe – stohnende, verkrampfte Korper, regungslose, fast erloschene Gestalten, ein Knauel, eine endlos scheinende Reihe von Jammer, Angst, Ergebung, Schmerz, Verzweiflung, Hoffnung, Not -; und jedesmal, wenn eine Tur sich geschlossen hatte, stand auf dem Korridor dann plotzlich wieder das rosige Licht des unirdischen Abends, immer wieder nach dem Grauen der Zimmerzellen diese zartliche Wolke aus weichem graugoldenem Glanz, von der man nicht sagen konnte, ob sie wie ein furchterlicher Hohn wirkte oder wie ein ubermenschlicher Trost. Vor dem Eingang zum Operationssaal blieb Jaffe stehen. Scharfes Licht drang durch die Mattglasscheiben der Tur. Zwei Krankenschwestern fuhren einen flachen Wagen herein. Eine Frau lag darauf. Ich begegnete ihrem Blick. Sie sah mich gar nicht an. Sie sah irgendwohin, in eine unbestimmte Ferne. Aber ich zuckte zusammen vor diesen Augen, so viel Tapferkeit und Fassung und Ruhe war darin.
Jaffes Gesicht war plotzlich mude. »Ich wei? nicht, ob es richtig war«, sagte er,»aber es hatte keinen Zweck gehabt, Sie mit Worten zu beruhigen. Sie hatten mir nicht geglaubt. Sie haben jetzt gesehen, da? viele dieser Menschen schlimmer krank sind als Pat Hollmann. Manche von ihnen haben nichts mehr als ihre Hoffnung. Aber die meisten kommen durch. Werden wieder gesund. Das wollte ich Ihnen zeigen.«
Ich nickte. »Es war richtig«, sagte ich.
»Vor neun Jahren starb meine Frau. Sie war funfundzwanzig Jahre alt. Nie krank gewesen. Grippe.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie verstehen, weshalb ich Ihnen das sage?«
Ich nickte wieder.
»Man kann nichts voraus wissen. Der Todkranke kann den Gesunden uberleben. Das Leben ist eine sonderbare Angelegenheit.« Sein Gesicht war jetzt sehr faltig. Eine Schwester kam und flusterte ihm etwas zu. Er reckte sich auf und nickte zum Operationssaal hinuber.
»Ich mu? jetzt da hinein. Zeigen Sie Pat nicht, wenn Sie Sorge haben. Das ist das wichtigste. Konnen Sie