»Gottfried ist nicht da«, sagte Koster. »Er steckt in einer dieser Versammlungen. Ich habe gehort, da? sie gesprengt werden sollen, und glaube, da? noch allerhand passieren wird. Es ware ganz gut, wenn wir ihn vor Schlu? erwischen konnten. Er ist ja nicht gerade der Ruhigste.«

»Wei?t du denn, wo er ist?« fragte ich.

»Nicht genau. Aber ziemlich sicher in einer der drei Hauptversammlungen. Wir mussen sie abfahren. Gottfried mit seinem leuchtenden Haarschopf ist ja leicht zu erkennen.«

»Gut.« Wir stiegen ein und jagten mit Karl los zum ersten Versammlungslokal.

Auf der Stra?e stand ein Lastwagen mit Schupos. Die Sturmriemen der Tschakos waren heruntergelassen. Karabinerlaufe schimmerten stumpf im Laternenlicht. Bunte Fahnen hingen in den Fenstern. Vor dem Eingang drangte sich eine Anzahl uniformierter Leute. Fast alle waren sehr jung.

Wir kauften zwei Billetts, lehnten Broschuren, Sammelbuchsen und Mitgliedserklarungen ab und gingen in den Saal. Er war voll besetzt und gut beleuchtet, um Zwischenrufer sofort herausfinden zu konnen. Wir blieben am Eingang stehen, und Koster, der sehr scharfe Augen hatte, musterte die Reihen.

Auf dem Podium stand ein kraftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die muhelos in den entferntesten Winkeln verstandlich war. Es war eine Stimme, die uberzeugte, ohne da? man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verstandlich. Der Mann ging auf der Buhne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plotzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit veranderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhorer mitrei?end, bis er in einem Furioso herausschmetterte:»Das kann nicht so weitergehen! Das mu? anders werden!«

Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden. Der Mann oben wartete ab. Sein Gesicht glanzte. Und dann kam es, breit, uberzeugend, unwiderstehlich, Versprechen uber Versprechen, es regnete nur so Versprechen, ein Paradies erstand uber den vielen Kopfen, es wolbte sich zauberhaft bunt, es war eine Lotterie, in der alle Lose Haupttreffer waren und in der jeder sein Privatgluck und sein Privatrecht und seine Privatrache fand.

Ich sah mir die Zuhorer an. Es waren Leute aller Berufe, Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie sa?en jetzt da in dem hei?en Saal, zuruckgelehnt oder vorgebeugt. Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spulte uber sie hin, und es war sonderbar: So verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schlafrig-suchtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine ubermachtige Erwartung, die alles ausloschte, Kritik, Zweifel, Widerspruche und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realitat. Der da oben wu?te alles – er hatte fur jede Frage eine Antwort, fur jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der fur einen dachte. Es war gut, zu glauben.

Koster stie? mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte, und wir gingen.

Die Saalwachen sahen uns finster und argwohnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.

»Gut gemacht, was?« fragte Koster drau?en.

»Erstklassig. Das kann ich als alter Propagandachef beurteilen.«

Wir fuhren ein paar Stra?en weiter. Dort war die zweite politische Versammlung. Andere Fahnen, andere Uniformen, ein anderer Saal; aber sonst alles ahnlich. Auf den Gesichtern der gleiche Ausdruck von Ungewisser Hoffnung und glaubiger Leere. Ein wei?gedeckter Vorstandstisch, quer vor den Stuhlreihen. Daran die Parteisekretare, der Vorstand, ein paar eifrige alte Jungfern. Der Redner, ein Beamtentyp, war schwacher als der vorige. Er redete Papierdeutsch, er brachte Zahlen, Beweise, es stimmte alles, was er sagte, aber trotzdem uberzeugte er weniger als der andere, der uberhaupt nichts bewies, sondern nur behauptete. Mude dosten die Parteisekretare am Vorstandstisch vor sich hin; sie hatten Hunderte solcher Versammlungen hinter sich.

»Komm«, sagte Koster nach einer Weile. »Hier ist er auch nicht. Habe ich ubrigens auch nicht erwartet.«

Wir fuhren weiter. Die Luft war kalt und frisch nach dem verbrauchten Dunst in den uberfullten Salen. Der Wagen scho? durch die Stra?en. Wir kamen am Kanal vorbei. Die Laternen warfen oliggelbe Reflexe auf das dunkle Wasser, das leise an die betonierten Ufer klatschte. Eine Zille zog schwarz und langsam voruber. Der Schleppdampfer hatte rote und grune Signallichter gesetzt. Ein Hund bellte heruber, dann ging ein Mann vor dem Licht her und verschwand in einer Luke, die einen Augenblick golden aufschimmerte. Jenseits des Kanals lagen hell angestrahlt die Hauser des Westens. Ein Bruckenbogen schwang sich von ihnen zur anderen Seite hinuber. Ruhelos schoben sich Autos, Omnibusse und elektrische Bahnen darauf hin und her. Er sah aus wie eine funkelnde bunte Schlange uber dem tragen schwarzen Wasser.

»Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stuck zu Fu?«, sagte Koster nach einer Weile. »Ist unauffalliger.«

Wir hielten Karl unter einer Laterne vor einer Kneipe an. Eine wei?e Katze huschte weg, als wir ausstiegen. Ein paar Huren mit Schurzen standen etwas weiter unter einem Torbogen und verstummten, als wir vorubergingen. In einer Hausecke lehnte ein Drehorgelspieler und schlief. Eine alte Frau wuhlte in den Abfallen am Stra?enrand.

Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhausern, Hofen und Durchgangen. Im untersten Stock befanden sich Laden, eine Backerei und eine Annahmestelle fur Lumpen und altes Eisen. Auf der Stra?e vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.

Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar gro?e Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Uber seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung – Ihr Horoskop fur 50 Pfennig. Ein Schwarm Menschen umdrangte ihn. Das grelle Licht einer Karbidlampe fiel auf sein gelbes, faltiges Gesicht. Er redete auf die Zuschauer ein, die schweigend zu ihm aufschauten – mit dem gleichen verlorenen, abwesenden, wundersuchtigen Blick wie vorher die Zuhorer in den Versammlungen mit den Fahnen und den Musikkapellen.

»Otto«, sagte ich zu Koster, der vor mir her ging,»jetzt wei? ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz.«

Er sah sich um. »Naturlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch.«

Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plotzlich horten wir Larm von drinnen. Im selben Moment sturzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken, wie auf ein verabredetes Zeichen uber den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tur des Lokals los. Der vorderste ri? sie auf, und sie sturmten hinein.

»Ein Sto?trupp«, sagte Koster. »Komm hier an die Wand hinter die Bierfasser.«

Ein Brullen und Toben begann im Saal. In der nachsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tur auf, ein Haufen Menschen walzte sich heraus, die ersten sturzten, die andern fielen daruber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Bierglasern, wutend ineinander verfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas au?erhalb auf, und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewuhl zuruck. Er machte das vollig ruhig, als ob er Holz hackte.

Ein neuer Knauel sturzte heran, und plotzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schopf Gottfrieds in den Handen eines tobenden Schnauzbartes.

Koster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden spater lie? der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene au?ersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zuruck. Gleich darauf entdeckte ich Koster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.

Lenz wehrte sich. »La? mich nur noch einen Augenblick hin, Otto«, keuchte er.

»Unsinn«, rief Koster,»die Schupo kommt sofort! Los, da hinten 'rauf.«

Wir liefen uber den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu fruh. Im gleichen Moment schrillte jahes Pfeifen uber den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf, und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppen hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glanzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knauel, ri? die Haufen auseinander, loste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblufften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklaren suchte. Hinter uns schnappte eine Tur. Eine Frau im Hemd, mit

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