zwar nicht, was Gottfried dazu gesagt hatte, aber Valentin war dafur gewesen. Wir hatten den Pastor allerdings gebeten, keine Rede zu halten. Er sollte nur eine Bibelstelle vorlesen. Der Geistliche war ein alter, kurzsichtiger Mann. Als er an das Grab trat, stolperte er uber einen Erdklumpen und ware hineingesturzt, wenn Koster und Valentin ihn nicht gehalten hatten. Bei dem Fall aber rutschte ihm die Bibel fort und die Brille, die er gerade aufsetzen wollte. Sie fielen in das Grab. Besturzt starrte der Geistliche hinterher.
»Lassen Sie es gut sein, Herr Pfarrer«, sagte Valentin,»wir ersetzen Ihnen die Sachen.«
»Es ist nicht wegen des Buches«, erwiderte der Geistliche leise,»aber die Brille brauche ich.«
Valentin brach einen Zweig von der Friedhofshecke. Dann kniete er am Grabe nieder, und es gelang ihm, die Brille an einem Bugel zu fassen und sie aus den Kranzen herauszuholen. Sie war aus Gold. Vielleicht hatte der Pfarrer sie deshalb wiederhaben wollen. Die Bibel war seitlich am Sarge vorbeigerutscht; man hatte ihn herausholen und hinuntersteigen mussen, um sie zu finden. Das wollte auch der Geistliche nicht. Er stand verlegen da. »Soll ich statt dessen einige Worte sprechen?« fragte er.
»Lassen Sie nur, Herr Pfarrer«, sagte Ferdinand. »Er hat ja nun da unten das ganze Testament.«
Die aufgeworfene Erde roch stark. In einer der Schollen kroch ein wei?er Engerling. Wenn die Erde wieder hinuntergeworfen war, wurde er unten weiterleben, sich verpuppen und im nachsten Jahre die Scholle durchbrechen und ans Licht gelangen. Gottfried aber war tot. Er war ausgeloscht. Wir standen an seinem Grabe, wir wu?ten, da? sein Korper, sein Haar, seine Augen noch da waren, verwandelt schon, aber doch noch da, und da? er trotzdem schon fort war und nie wiederkam. Es war nicht zu begreifen. Unsere Haut war warm, unsere Gedanken arbeiteten, unser Herz pumpte Blut durch die Adern, wir waren da wie vorher, wie gestern noch, uns fehlte nicht plotzlich ein Arm, wir waren nicht blind oder stumm geworden, alles war wie immer, gleich wurden wir fortgehen und Gottfried Lenz wurde zuruckbleiben und niemals nachkommen. Es war nicht zu begreifen.
Die Schollen polterten auf den Sarg. Der Totengraber hatte uns Spaten gegeben und nun gruben wir ihn ein, Valentin, Koster, Alfons, ich, wie wir schon manchen Kameraden eingegraben hatten. Drohnend schlug mir ein altes Soldatenlied durch den Schadel, ein altes, trauriges Soldatenlied, das er oft gesungen hatte -»Argonnerwald, Argonnerwald – ein stiller Friedhof bist du bald…«
Alfons hatte ein einfaches, schwarzes Holzkreuz mitgebracht, ein Kreuz, wie sie auf den endlosen Graberreihen in Frankreich zu Hunderttausenden stehen. Wir setzten es an das Kopfende des Grabes.
»Kommt«, sagte Valentin schlie?lich heiser.
»Ja«, sagte Koster. Aber er blieb stehen. Wir blieben alle stehen. Valentin sah uns der Reihe nach an. »Wozu?« sagte er langsam. »Wozu nur? Verflucht!«
Keiner antwortete.
Valentin machte eine mude Bewegung. »Kommt.«
Wir gingen uber die Kieswege, dem Ausgang zu. Am Tor erwarteten uns Fred, Georgie und die andern. »Er konnte so wunderbar lachen«, sagte Stefan Grigoleit, und die Tranen flossen uber sein hilfloses, zorniges Gesicht.
Ich sah mich um. Niemand kam hinter uns her.
XXV
Im Februar sa? ich mit Koster zum letztenmal in unserer Werkstatt. Wir hatten sie verkaufen mussen, und jetzt warteten wir auf den Auktionator, der die Einrichtungsgegenstande und die Droschke versteigern sollte. Koster hatte Aussicht, als Rennfahrer bei einer kleineren Autofirma im Fruhjahr unterzukommen. Ich blieb im Cafe International und wollte versuchen, tagsuber noch irgendeine Arbeit dazuzufinden, um mehr zu verdienen.
Auf dem Hof versammelten sich allmahlich ein paar Leute. Der Auktionator kam. »Gehst du 'raus, Otto?« fragte ich.
»Wozu? Es steht ja alles drau?en, und er wei? Bescheid.«
Koster sah mude aus. Man konnte es bei ihm nicht leicht merken, aber wenn man ihn genau kannte, wu?te man es. Sein Gesicht sah dann eher gespannter und harter aus als sonst. Er war Abend fur Abend unterwegs, immer in derselben Gegend. Er kannte langst den Namen des Burschen, der Gottfried erschossen hatte. Er konnte ihn nur nicht finden, weil der andere, aus Furcht vor der Polizei, sein Quartier gewechselt hatte und sich irgendwo verborgen hielt. Alfons hatte das alles herausbekommen. Er wartete ebenfalls. Es war allerdings moglich, da? der andere gar nicht in der Stadt war. Da? Koster und Alfons hinter ihm her waren, wu?te er nicht. Sie warteten darauf, da? er zuruckkam, wenn er sich sicher fuhlte.
»Ich werde mal 'rausgehen und zusehen, Otto«, sagte ich.
»Gut.«
Ich ging auf den Hof. Unsere Werkzeugbanke und die ubrigen Sachen waren in der Mitte aufgebaut. Rechts an der Mauer stand das Taxi. Wir hatten es sauber gewaschen. Ich betrachtete die Polster und die Reifen. Unsere brave Milchkuh hatte Gottfried es immer genannt. War gar nicht so einfach, sich davon zu trennen.
Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich wandte mich uberrascht um. Ein junger, unangenehm forscher Mann in einem Gurtelmantel stand vor mir. Er zwinkerte mit den Augen und schwang einen Bambusstock durch die Luft. »Hallo! Wir kennen uns doch!«
Eine Ahnung stieg in mir auf. »Guido Thiess von der Augeka!«
»Na also!« erklarte das Gurteltier selbstzufrieden. »Haben uns damals doch bei derselben Klamotte getroffen. Sie hatten allerdings einen ekelhaften Kerl bei sich. Beinah hatte ich ihm ein paar 'reingehauen.«
Ich verzog unwillkurlich das Gesicht, als ich daran dachte, da? er Koster beinahe ein paar 'reingehauen hatte. Thiess deutete das als ein Lacheln und zeigte seinerseits ein ziemlich schadhaftes Gebi?. »Na, Schwamm druber, Guido ist nicht nachtragend. Haben ja damals einen enormen Preis fur den Gro?vater gezahlt. War denn da noch was drin fur Sie?«
»Ja«, sagte ich. »Der Wagen ist gut.«
Thiess meckerte. »Waren Sie mir gefolgt, hatten Sie mehr gehabt. Und ich auch. Na, Schwamm druber! Vergeben und vergessen! Aber heute konnen wir Kippe machen. Fur funfhundert Mark steigern wir den Kasten glatt ein. Ist ja kein Bein da, um zu bieten. Einverstanden?«
Ich begriff. Er glaubte, wir hatten den Wagen damals weiterverkauft, und er wu?te nicht, da? uns die Werkstatt gehorte. Im Gegenteil, er nahm an, wir wollten den Wagen jetzt wiederkaufen.
»Der Wagen ist heute noch funfzehnhundert wert«, sagte ich. »Die Taxikonzession nicht einmal eingeschlossen.«
»Eben«, erklarte Guido eifrig. »Wir gehen bis funfhundert, das hei?t ich. Kriegen wir den Zuschlag, zahle ich Ihnen dreihundertfunfzig bar auf die Hand.«
»Kann ich nicht machen«, sagte ich. »Ich habe einen Kunden fur den Wagen.«
»Immerhin…« Er wollte neue Vorschlage machen.
»Hat keinen Zweck…« Ich ging zur Mitte des Hofes hinuber. Bis zwolfhundert hatte er freie Hand, das wu?te ich.
Der Auktionator fing an, die Sachen auszubieten. Zuerst die Einrichtungsgegenstande. Sie brachten nicht viel. Das Werkzeug auch nicht. Dann kam die Droschke heran. Das erste Gebot war dreihundert Mark.
»Vierhundert«, sagte Guido.
»Vierhundertfunfzig«, bot nach langem Zogern ein Mann in einer Schlosserbluse.
Guido ging auf funfhundert. Der Auktionator fragte herum. Der Mann mit der Bluse schwieg. Guido zwinkerte mir zu und hob vier Finger hoch. »Sechshundert«, sagte ich.
Guido schuttelte den Kopf und ging auf siebenhundert. Ich bot weiter. Guido ging verzweifelt mit. Bei tausend machte er mir geradezu beschworende Zeichen und deutete mit den Fingern, ich konne noch hundert verdienen. Er bot tausendzehn. Bei elfhundert wurde er rot und feindselig, quetschte aber doch elfhundertzehn hervor. Ich ging auf elfhundertneunzig und erwartete von ihm ein Gebot von zwolfhundert. Dann wollte ich aufhoren.
Aber Guido war jetzt wutend. Er argerte sich, da? er nach seiner Meinung herausgedrangt worden war, und bot plotzlich dreizehnhundert. Ich uberlegte rasch. Hatte er weiter wirklich kaufen wollen, so hatte er todsicher bei zwolfhundert aufgehort. Jetzt wollte er mich aus Rache nur hochtreiben. Er glaubte nach unserm Gesprach, ich hatte funfzehnhundert als Grenze und sah keine Gefahr fur sich.
»Dreizehnhundertzehn«, sagte ich.