»Vierzehnhundert«, bot Guido rasch.
»Vierzehnhundertzehn«, erwiderte ich zogernd. Ich hatte Angst, hangen zu bleiben.
»Vierzehnhundertneunzig!« Guido sah mich triumphierend und hohnisch an. Er glaubte, mir die Suppe grundlich versalzen zu haben.
Ich hielt seinen Blick aus und schwieg. Der Auktionator fragte einmal, zweimal, dann hob er den Hammer. Im Augenblick, als er Guido den Wagen zuschlug, wechselte dessen Gesicht von Triumph in ratloses Erstaunen.
Fassungslos kam er zu mir heran. »Ich dachte, Sie wollten…«
»Nein«, sagte ich.
Er erhob sich und kratzte sich den Kopf. »Verdammt! Wird schwer sein, meiner Firma das beizubringen. Dachte, Sie' gingen bis funfzehnhundert. Immerhin – dieses Mal habe ich Ihnen wenigstens den Kasten weggeschnappt!«
»Das sollten Sie doch auch«, sagte ich.
Guido verstand nicht. Erst als er Koster kommen sah, begriff er auf einmal alles und fuhr sich in die Haare. »Herrgott, der Wagen gehorte Ihnen? Ich Esel, ich wahnsinniger Esel! 'reingelegt! Auf die Latte genommen! Mensch, Guido, das mu? dir passieren! Auf den altesten Trick 'reinfliegen. Na, Schwamm druber. Die gerissensten Knaben fliegen immer gerade auf die bekanntesten Sachen 'rein! Holen wir beim nachstenmal schon wieder 'raus!«
Er setzte sich ans Steuer und fuhr ab. Wir blickten dem Wagen nach, und uns war nicht besonders zumute.
Nachmittags kam Mathilde Sto?. Wir mu?ten mit ihr noch fur den letzten Monat abrechnen. Koster gab ihr das Geld und schlug vor, sich bei dem neuen Besitzer der Werkstatt wieder um den Posten als Scheuerfrau zu bemuhen. Wir hatten auch Jupp bei ihm untergebracht. Aber Mathilde schuttelte den Kopf. »Nee, Herr Koster, ich mache Schlu?. Die Knochen werden zu steif.«
»Was wollen Sie denn anfangen?« fragte ich.
»Ich geh' zu meiner Tochter. Die ist in Bunzlau verheiratet. Kennen Sie Bunzlau?«
»Nein, Mathilde.«
»Aber Herr Koster kennt es?«
»Auch nicht, Frau Sto?.«
»Komisch«, sagte Mathilde,»kein Mensch kennt Bunzlau. Habe schon so viele danach gefragt. Dabei ist meine Tochter seit zwolf Jahren da verheiratet. Mit einem Kanzleisekretar.«
»Dann wird es Bunzlau auch geben. Da konnen Sie ganz sicher sein. Wenn ein Kanzleisekretar da wohnt.«
»Das schon. Aber es ist doch trotzdem komisch, da? keiner es kennt, was?«
Wir gaben das zu. »Weshalb waren Sie denn in all der Zeit selbst nicht einmal da?« fragte ich.
Mathilde schmunzelte. »Da war so eine Sache. Aber nu soll ich zu die Kinder kommen. Sie haben schon vier. Und Klein-Eduard soll auch mitkommen.«
»Ich glaube, in der Gegend von Bunzlau gibt's sehr guten Schnaps«, sagte ich. »Pflaumenschnaps oder so was…«
Mathilde wehrte ab. »Das war ja die Sache. Mein Schwiegersohn ist namlich Abstinent. Das sind Leute, die nichts trinken.«
Koster holte die letzte Flasche aus den leeren Regalen. »Na, Frau Sto?, dann mussen wir ja einen Abschiedsschnaps zusammen trinken.«
»Bin dabei«, sagte Mathilde.
Koster stellte die Glaser auf den Tisch und schenkte ein. Mathilde go? den Rum mit einer Geschwindigkeit weg, als flosse er durch ein Sieb. Ihre Oberlippe zuckte heftig, und der Schnurrbart bebte.
»Noch einen?« fragte ich.
»Ich sage nicht nein.«
Sie bekam noch ein gro?es Glas voll, dann verabschiedete sie sich.
»Alles Gute in Bunzlau«, sagte ich.
»Ja, danke auch vielmals. Aber komisch ist es doch, da? es keiner kennt, wie?«
Sie schaukelte hinaus. Wir standen noch eine Weile in der leeren Werkstatt herum. »Konnten eigentlich auch gehen«, sagte Koster.
»Ja«, erwiderte ich. »Haben hier ja nichts mehr zu tun.«
Wir schlossen die Tur ab und gingen hinaus. Dann holten wir Karl. Er stand jetzt in einer Garage in der Nahe und war nicht mit verkauft worden. Wir fuhren zur Bank und zur Post, und Koster zahlte das Geld an den Konkursverwalter ein. »Ich gehe jetzt schlafen«, sagte er, als er wieder herauskam. »Bist du nachher da?«
»Ich habe mich heute fur den ganzen Abend frei gemacht.«
»Gut, ich komme dann so um acht.«
Wir a?en in einer kleinen Kneipe vor der Stadt und fuhren dann wieder hinein. Als wir in die ersten Stra?en kamen, platzte uns ein Vorderreifen. Wir wechselten ihn aus. Karl war lange nicht gewaschen worden, und ich wurde ziemlich schmutzig dabei. »Mu?te mir mal die Hande waschen, Otto«, sagte ich.
In der Nahe war ein ziemlich gro?es Cafe. Wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch in der Nahe des Eingangs. Zu unserm Erstaunen war das Lokal fast ganz besetzt. Eine Damenkapelle spielte, und es herrschte gro?er Betrieb. Die Musik trug bunte Papiermutzen, eine Anzahl Gaste war kostumiert, Papierschlangen flogen von Tisch zu Tisch, Luftballons stiegen auf, die Kellner rannten mit hochbeladenen Tabletts umher, und der ganze Raum war voll Bewegung, Gelachter und Larm.
»Was ist denn hier los?« fragte Koster.
Ein blondes Madchen neben uns uberschuttete uns mit einer Wolke Konfetti. »Wo kommen Sie denn her?« lachte sie. »Wissen Sie nicht, da? heute Faschingsanfang ist?«
»Ach so«, sagte ich. »Na, dann werde ich mir mal die Hande waschen.«
Ich mu?te das ganze Lokal durchqueren, um zu den Waschraumen zu gelangen. Eine Weile wurde ich aufgehalten durch einige Leute, die betrunken waren und eine Frau auf den Tisch heben wollten, damit sie singen sollte. Die Frau wehrte sich kreischend, dabei fiel der Tisch um und mit dem Tisch die ganze Gesellschaft. Ich wartete, bis der Durchgang frei wurde – aber plotzlich war es mir, als hatte ich einen elektrischen Schlag erhalten. Ich stand steif und erstarrt da, das Lokal versank, der Larm, die Musik, nichts war mehr da, undeutliche, huschende Schatten waren es nur noch, aber deutlich, ungeheuer scharf und klar blieb ein Tisch, ein einziger Tisch und an dem Tisch ein junger Mensch, mit einer Narrenkappe schief auf dem Kopf, einen Arm um ein angetrunkenes Madchen gelegt, glasige, dumme Augen, sehr schmale Lippen, und unter dem Tisch hellgelbe, auffallende, glanzend geputzte Ledergamaschen…
Ein Kellner stie? mich an. Ich ging wie betrunken weiter und blieb stehen. Mir war gluhend hei?, aber ich zitterte am ganzen Korper. Meine Hande waren klatschna?. Ich sah jetzt auch die andern Leute am Tisch. Ich horte, da? sie im Chor mit herausfordernden Gesichtern irgendein Lied sangen und im Takt dazu mit den Bierglasern auf den Tisch klopften. Wieder stie? mich jemand an. »Versperren Sie doch nicht die Passage«, knurrte er.
Ich ging mechanisch weiter, ich fand die Waschraume, ich wusch mir die Hande, und ich merkte es erst, als ich mir die Haut fast verbruht hatte. Dann ging ich zuruck.
»Was hast du?« fragte Koster.
Ich konnte nicht antworten. »Ist dir schlecht?« fragte er.
Ich schuttelte den Kopf und sah nach dem Tisch nebenan, von wo das blonde Madchen heruberschielte. Plotzlich wurde Koster bla?. Seine Augen verengten sich. Er beugte sich vor.
»Ja?« fragte er ganz leise.
»Ja«, erwiderte ich.
»Wo?«
Ich blickte in die Richtung.
Koster erhob sich langsam. Es war, als ob eine Schlange sich aufrichtete. »Achtung«, flusterte ich. »Nicht hier, Otto!«
Er wehrte mit einer kurzen Handbewegung ab und ging langsam vorwarts. Ich hielt mich bereit, hinter ihm her zu sturzen. Eine Frau stulpte ihm eine grunrote Papiermutze auf und hangte sich an ihn. Sie fiel ab, ohne da? er sie beruhrt hatte, und starrte ihm nach. Er ging in einem flachen Bogen durch das Lokal und kehrte zuruck.