Sanatorium. Der Italiener aus der Bar war auch dabei. Er wurde Antonio gerufen und kam an unsern Tisch, um Pat zu begru?en. Er erzahlte, da? ein paar Spa?vogel in der vergangenen Nacht einen Patienten, wahrend er schlief, mitsamt dem Bett aus seinem Zimmer gerollt und in das Zimmer einer uralten Lehrerin geschoben hatten.
»Weshalb haben sie denn das gemacht?« fragte ich.
»Er ist geheilt und fahrt in den nachsten Tagen ab«, erwiderte Antonio. »Da werden immer solche Streiche gemacht.«
»Das ist der beruhmte Galgenhumor der Zuruckbleibenden, Liebling«, sagte Pat.
»Hier oben wird man kindisch«, meinte Antonio entschuldigend.
Geheilt, dachte ich, einer ist geheilt und fahrt zuruck. -»Was willst du trinken, Pat?« fragte ich.
»Einen Martini. Einen trockenen Martini.«
Ein Radio begann zu spielen. Wiener Walzer. Sie wehten durch die warme, sonnige Luft wie leichte, helle Fahnen. Der Kellner brachte die Martinis. Sie waren sehr kalt und perlten noch, wahrend die Sonne hineinschien. »Schon, so zu sitzen, wie?« fragte Pat.
»Herrlich«, erwiderte ich.
»Aber manchmal ist es nicht zum Aushalten«, sagte sie.
Wir blieben zum Essen unten. Pat wollte es gern. Sie hatte in der letzten Zeit immer im Sanatorium bleiben mussen, und dieses war ihr erster Ausgang; da meinte sie, sie fuhle sich doppelt so gesund, wenn sie einmal im Dorf essen konne. Antonio a? mit uns. Nachher fuhren wir wieder hinauf, und Pat ging in ihr Zimmer, weil sie zwei Stunden liegen mu?te. Koster und ich holten Karl aus der Garage und sahen ihn nach. Wir mu?ten zwei gebrochene Federblatter auswechseln. Der Garagemeister hatte Werkzeug da, und wir machten uns an die Arbeit. Dann fullten wir Ol nach und schmierten das Chassis durch. Als alles fertig war, schoben wir ihn hinaus. Dreckbespritzt, mit hangenden Ohren, stand er im Schnee.
»Wollen wir ihn waschen?« fragte ich.
»Nein, nicht unterwegs«, sagte Koster. »Das nimmt er ubel.«
Pat kam hinzu. Sie sah warm und ausgeschlafen aus. Ihr Hund tobte um sie herum. »Billy!« rief ich. Er stutzte, aber er war nicht uberma?ig freundlich. Er kannte mich nicht wieder und wurde ganz verlegen, als Pat ihn auf mich aufmerksam machte. »So geht's«, sagte ich. »Gottlob, da? die Menschen ein besseres Gedachtnis haben. Wo war er denn gestern?«
Pat lachte. »Er hat die ganze Zeit unterm Bett gelegen. Er ist eifersuchtig, wenn ich Besuch bekomme, und zieht sich dann argerlich zuruck.«
»Du siehst wunderbar aus«, sagte ich.
Sie blickte mich glucklich an. Dann trat sie an Karl heran.
»Ich mochte mal wieder drinsitzen und ein kleines Stuck fahren.«
»Naturlich«, sagte ich,»was, Otto?«
»Selbstverstandlich. Sie haben ja einen dicken Mantel an, und hier sind noch Schals und Decken genug.«
Pat setzte sich nach vorn, hinter die Windschutzscheibe, neben Koster. Karl brullte auf. Die Auspuffgase dampften wei?blau in die kalte Luft. Der Motor war noch nicht warm. Langsam begannen die Ketten klappernd durch den Schnee zu mahlen. Karl kroch fauchend, knallend und brummend zum Dorf hinunter und die Hauptstra?e entlang, ein geduckter Wolf unter dem Getrabe der Pferde und dem Glockenlauten der Schlitten.
Wir kamen aus dem Dorf heraus. Es war spater Nachmittag, und die Schneefelder schimmerten rotlich, uberhaucht von der tiefen Sonne. Ein paar Heuschober am Hang lagen fast begraben im Wei?. Wie schmale Kommas schwangen die letzten Skilaufer zu Tal. Sie passierten dabei die rote Sonne, die machtig noch einmal hinter dem Hang hervorkam, ein Ball dusterer Glut.
»Seid ihr gestern hier entlanggekommen?« fragte Pat.
»Ja.«
Der Wagen gewann die Kuppe der ersten Anhohe. Koster hielt. Die Aussicht von hier oben war uberwaltigend. Am Tage vorher, als wir durch den glasernen blauen Abend hindurchklirrten, hatten wir nichts davon bemerkt. Wir hatten nur auf die Stra?e geachtet.
Hang hinter Hang offnete sich ein vielfaltiges Tal. Die Kanten des fernen Gebirges standen scharf und klar vor dem bla?grunen Himmel. Sie leuchteten golden. Goldene Flecken, wie abgestaubt, lagen auch auf den Schneefeldern unterhalb der Gipfel. Die Hange gingen von Sekunde zu Sekunde immer mehr in ein prunkvolles Wei?rot uber, und die Schatten wurden immer blauer. Die Sonne stand gerade in der Lucke zwischen zwei schimmernden Gipfeln, und das weite Tal mit seinen Hohen und Hangen wirkte wie eine machtige, stumme, leuchtende Parade vor einem untergehenden Herrscher. Das violette Band der Stra?e schlangelte sich um die Hugel, verschwand, tauchte wieder auf, dunkel in den Kurven, an Dorfern vorbei, und lief dann gerade auf den Pa?sattel am Horizont zu.
»So weit vom Dorf war ich noch nie«, sagte Pat. »Ist das die Stra?e nach Hause?«
»Ja.«
Sie schwieg und sah hinunter. Dann stieg sie aus und hielt die Hand schutzend vor die Augen. So starrte sie nach Norden, als konne sie schon die Turme der Stadt sehen. »Wie weit ist es?« fragte sie.
»So an tausend Kilometer. Im Mai fahren wir hinunter. Dann holt Otto uns ab.«
»Im Mai«, wiederholte sie. »Mein Gott, im Mai.«
Die Sonne versank langsam. Das Tal wurde lebendig; die Schatten, die bisher starr in den Bodenfalten gehockt hatten, begannen lautlos hervorzuhuschen und hoher zu klettern wie blaue Riesenspinnen. Es wurde kuhl. »Wir mussen zuruck, Pat«, sagte ich.
Sie blickte auf, und ihr Gesicht war plotzlich wie zerfallen vor Schmerz. Ich sah auf einmal, da? sie alles wu?te. Sie wu?te, da? sie nie mehr uber diese gnadenlose Bergkette am Horizont hinwegkommen wurde, sie wu?te es und wollte es verbergen, so wie wir es vor ihr verbergen wollten, aber einen Augenblick lang verlor sie die Fassung, und aller Jammer der Welt brach aus ihren Augen. »La? uns noch ein Stuck herunterfahren«, sagte sie. »Nur ein ganz kleines Stuck abwarts.«
»Komm«, erwiderte ich, nachdem ich Koster angesehen hatte. Sie stieg zu mir hinten in den Wagen, ich bettete sie in meinen Arm und zog die Decke uber uns beide. Der Wagen begann langsam bergab zu fahren, in das Tal und in die Schatten.
»Robby, Liebling«, flusterte Pat an meiner Schulter,»jetzt ist es, als ob wir nach Hause fuhren, zuruck in unser Leben…«
»Ja«, sagte ich und zog die Decke bis an ihr Haar.
Es wurde rasch dunkler, je tiefer wir kamen. Pat lag ganz unter den Decken. Sie schob ihre Hand auf meine Brust, unter das Hemd, ich fuhlte ihre Hand auf meiner Haut, und dann ihren Atem, ihre Lippen und dann ihre Tranen.
Vorsichtig, damit sie die Kurve nicht merkte, drehte Koster auf dem Marktplatz des nachsten Dorfes den Wagen in einer langen Schleife und fuhr langsam zuruck.
Die Sonne war verschwunden, als wir die Hohe wieder uberfuhren, und im Osten stand schon bla? und klar zwischen aufsteigenden Wolken der Mond. Wir fuhren zuruck, die Ketten malmten uber den Boden mit monotonem Gerausch, es wurde sehr still, ich sa? reglos und ruhrte mich nicht und fuhlte die Tranen Pats auf meinem Herzen, als blute dort eine Wunde.
Eine Stunde spater sa? ich in der Halle. Pat war in ihrem Zimmer, und Koster war zur Wetterstelle gegangen, um sich zu erkundigen, ob es Schnee gabe. Es war drau?en dunstig geworden, der Mond hatte jetzt einen Hof, und weich und grau wie Samt stand der Abend vor den Fenstern. Nach einer Weile kam Antonio und setzte sich zu mir. Ein paar Tische entfernt sa? eine Kanonenkugel in einem Homespunanzug mit zu kurzen Knickerbockern. Ein Sauglingsgesicht mit aufgeworfenen Lippen und kalten Augen, daruber ein runder roter Kopf ohne Haare, glanzend wie eine Billardkugel. Neben ihm eine schmale Frau mit tiefen Augenschatten und einem flehentlichen, kummervollen Ausdruck. Die Kanonenkugel war lebhaft, der Kopf war standig in Bewegung, die rosigen Patschhande beschrieben glatte Kurven.
»Wunderbar, hier oben, ganz herrlich! Dies Panorama, diese Luft, diese Verpflegung! Hast es wirklich gut…«
»Bernhard«, sagte die Frau leise.
»Wahrhaftig, so mochte ich's auch mal haben, gehatschelt und gepflegt!« oliges Gelachter. »Na, ich gonn's dir…«
»Ach, Bernhard«, sagte die Frau mutlos.