»Was denn, was denn«, larmte die Kanonenkugel frohlich,»besser geht's doch gar nicht! Bist doch hier wie im Paradies! Was meinst du, was sich unten tut! Mu? morgen wieder 'rein in den Schlamassel. Sei froh, da? du nichts davon merkst. Na, freut mich, gesehen zu haben, da? es dir hier gut geht.«
»Bernhard, es geht mir nicht gut«, sagte die Frau.
»Aber Kindchen«, polterte Bernhard,»nicht pimpelig werden! Was sollte unsereins da sagen! Immer im Betrieb, die Pleiten uberall, die Steuern – na, man macht's ja gern.«
Die Frau schwieg.
»Rustiger Knabe«, sagte ich zu Antonio.
»Und wie!« erwiderte er. »Seit vorgestern ist er hier und redet jeden Versuch der Frau mit seinem ›Wunderbar hast du's hier‹, nieder. Er will nichts sehen, wissen Sie – nicht ihre Angst, nicht ihre Krankheit, nicht ihre Einsamkeit. Wahrscheinlich lebt er langst mit einer zweiten Kanonenkugel in Berlin und macht hier halbjahrlich seinen Pflichtbesuch, handereibend, jovial, auf seine Bequemlichkeit bedacht. Nur nichts horen! Das gibt's hier oft!«
»Wie lange ist die Frau hier?«
»Ungefahr zwei Jahre.«
Ein Trupp junger Leute lief kichernd durch die Halle.
Antonio lachte.
»Die kommen von der Post. Sie haben an Roth ein Telegramm geschickt.«
»Wer ist Roth?«
»Das ist der, der nachstens abreist. Sie haben ihm telegrafiert, er durfe wegen einer Grippeepidemie in seiner Heimat nicht abfahren und musse noch hierbleiben. Das sind so ubliche Scherze. Weil sie selbst hierbleiben mussen, verstehen Sie?«
Ich schaute durch das Fenster auf den grauen Samt der verhangenen Berge. Das ist ja alles nicht wahr, dachte ich, das ist ja alles keine Wirklichkeit, so geht das doch nicht. Das ist doch nur eine Buhne hier, auf der ein bi?chen Tod gespielt wird. Wenn man stirbt, das ist doch furchtbarer Ernst. Ich hatte den jungen Leuten nachgehen, ihnen auf die Schultern schlagen und sagen mogen:»Nicht wahr, das ist nur ein Salontod hier, und ihr seid nur lustige Sterbeamateure? Nachher wird wieder aufgestanden und sich verbeugt? So kann man doch nicht sterben, mit etwas Fieber und rauhem Atem, dazu gehoren doch Schusse und Wunden, so kenne ich es doch…«
»Sind Sie auch krank?« fragte ich Antonio.
»Naturlich«, sagte er lachelnd.
»Wirklich herrlicher Kaffee«, larmte die Kanonenkugel nebenan,»so was gibt's bei uns uberhaupt nicht. Das reine Schlaraffenland!«
Koster kam von der Wetterdienststelle zuruck. »Ich mu? fahren, Robby«, sagte er. »Das Barometer ist gefallen, und wahrscheinlich gibt es diese Nacht Schnee. Dann komme ich morgen nicht mehr durch. Heute abend geht's grade noch.«
»Gut. Essen wir noch zusammen?«
»Ja. Ich packe jetzt rasch.«
»Ich komme mit«, sagte ich.
Wir packten Kosters Sachen zusammen und brachten sie zur Garage hinunter. Dann gingen wir zuruck, um Pat zu holen.
»Wenn irgendwas ist, rufe mich an, Robby«, sagte Otto.
Ich nickte.
»Das Geld hast du in wenigen Tagen hier. Genug fur einige Zeit. Tu alles, was notig ist.«
»Ja, Otto.« Ich zogerte. »Wir haben doch noch ein paar Ampullen Morphium zu Hause. Kannst du mir die schicken?«
Er sah mich an. »Wozu willst du sie haben?«
»Ich wei? nicht, wie das hier wird. Vielleicht ist es nicht notig. Ich habe immer noch so eine Hoffnung, trotz allem. Immer, wenn ich sie sehe. Wenn ich allein bin, nicht. Aber ich mochte nicht, da? sie leidet, Otto. Da? sie so herumliegt und da? nichts mehr da ist als Schmerzen. Vielleicht geben sie es ihr hier dann auch so. Aber es ist mir eine Beruhigung, zu wissen, da? ich ihr helfen kann.«
»Nur das, Robby?« fragte Koster.
»Nur das, Otto. Bestimmt. Sonst wurde ich es dir nicht sagen.«
Er nickte. »Wir sind nur noch zwei«, sagte er langsam.
»Ja.«
»Gut, Robby.«
Wir gingen in die Halle, und ich holte Pat herunter. Dann a?en wir rasch, denn es bezog sich immer mehr. Koster fuhr Karl aus der Garage zum Portal vor. »Mach's gut, Robby«, sagte er.
»Du auch, Otto.«
»Auf Wiedersehen, Pat.« Er gab ihr die Hand und sah sie an. »Im Fruhjahr komme ich Sie holen.«
»Leben Sie wohl, Koster.« Pat hielt seine Hand fest. »Ich freue mich so, Sie noch gesehen zu haben. Gru?en Sie auch Gottfried Lenz von mir.«
»Ja«, sagte Koster.
Sie hielt immer noch seine Hand. Ihre Lippen zitterten. Und plotzlich machte sie einen Schritt vor und ku?te ihn. »Leben Sie wohl«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
Kosters Gesicht war auf einmal von einer hellroten Flamme durchflogen. Er wollte noch etwas sagen, aber er wandte sich ab, stieg in den Wagen, fuhr in einem Sprung an und jagte die Serpentinen hinunter, ohne sich umzusehen. Wir sahen ihm nach. Der Wagen donnerte die Hauptstra?e entlang und zog die Kehren hinauf wie ein einsamer Leuchtkafer, das fahle Feld der Scheinwerfer auf dem grauen Schnee vor sich. Auf der Hohe blieb er stehen, und Koster winkte. Er stand dunkel vor dem Licht. Dann verschwand er, und wir horten noch lange das immer schwacher werdende Summen der Maschine.
Pat stand vorgebeugt und lauschte, solange noch etwas zu vernehmen war. Dann wandte sie sich mir zu. »Jetzt ist das letzte Schiff abgefahren, Robby.«
»Das zweitletzte«, erwiderte ich. »Das letzte bin ich. Und wei?t du, was ich vorhabe? Ich will mir einen andern Ankerplatz suchen. Das Zimmer in der Dependance gefallt mir nicht mehr. Ich sehe nicht ein, weshalb wir nicht zusammen wohnen konnen. Werde mal versuchen, ein Zimmer in deiner Nahe zu bekommen.«
Sie lachelte. »Ausgeschlossen! Kriegst du nicht! Wie willst du das machen?«
»Freust du dich, wenn ich es schaffe?«
»Was fur eine Frage! Es ware herrlich, Liebling. Fast wie bei Mutter Zalewski!«
»Gut, dann la? mich mal jetzt eine halbe Stunde arbeiten!«
»Schon. Ich spiele so lange mit Antonio Schach. Das habe ich hier gelernt.«
Ich ging ins Buro und erklarte, da? ich langere Zeit bliebe und ein Zimmer in Pats Etage haben mochte. Eine altere Dame ohne Busen sah mich indigniert an und lehnte meinen Wunsch auf Grund der Hausordnung ab.
»Wer hat die Hausordnung gemacht?« fragte ich.
»Die Direktion«, gab die Dame zuruck und strich die Falten ihres Kleides glatt.
Ziemlich widerwillig teilte sie mir schlie?lich mit, da? der Chefarzt uber Ausnahmen zu entscheiden habe. »Er ist aber nicht mehr da«, fugte sie hinzu. »Und abends darf er nur dienstlich gestort werden.«
»Schon«, sagte ich,»dann werde ich ihn mal dienstlich storen. In Sachen der Hausordnung.«
Der Chefarzt wohnte in einem kleinen Hause neben dem Sanatorium. Er empfing mich gleich und gab mir sofort die Erlaubnis. »So leicht habe ich mir das nach dem Anfang nicht vorgestellt«, sagte ich.
Er lachte. »Aha, die alte Rexroth hat Sie wohl erwischt? Na, ich werde gleich mal telefonieren.«
Ich ging zuruck ins Buro. Die alte Rexroth verschwand wurdig, als sie mein herausforderndes Gesicht erblickte. Ich regelte alles mit der Sekretarin und gab dem Hausknecht Auftrag, mein Gepack heruberzuschaffen und mir ein paar Flaschen zu trinken zu besorgen. Dann ging ich zu Pat in die Halle.
»Hast du's geschafft?« fragte sie.
»Noch nicht, aber in ein paar Tagen werde ich's schon erreichen.«
»Schade.« Sie warf die Schachfiguren um und stand auf.
»Was wollen wir machen?« fragte ich. »In die Bar gehen?«»Wir spielen abends oft Karten«, sagte Antonio. »Es gibt Fohn, das spurt man. Da ist Kartenspielen das Bequemste.«